2. Berner Arbeitstreffen zur visuellen Rhetorik | Essay

Imperfektion kann Authentizität erzeugen

Per Arglosigkeit zur Glaubwürdigkeit

Von Annina Schneller


Die Glaub­wür­dig­keit des Red­ners ist seit Alters her ein wich­ti­ger Aspekt des rhe­to­ri­schen Über­zeu­gens – und auch der Legi­ti­ma­ti­on des­sen, wovon man sein Publi­kum über­zeu­gen will. Um glaub­wür­dig zu wir­ken, soll­ten der Red­ner und das, wofür er ein­steht, echt wir­ken. Mit der dis­si­mu­la­tio artis stellt die klas­si­sche Rhe­to­rik eine Stra­te­gie bereit, dem Publi­kum Authen­ti­zi­tät zu sug­ge­rie­ren. Neben dem wich­tigs­ten Ziel der Meis­ter­schaft und Voll­endung der Rede­kunst, lehrt die Rhe­to­rik, wie man trotz aller Geschlif­fen­heit die Nähe zum Publi­kum und den spon­ta­nen, natür­li­chen Aus­druck nicht ver­liert. Denn je aus­ge­feil­ter eine Rede erscheint und je ver­sier­ter eine Per­son vor­trägt, des­to mehr Distanz schafft sie gleich­zei­tig zu ihren Zuhö­rern und des­to weni­ger ist viel­leicht von ihrer Per­sön­lich­keit noch sichtbar.

Ähn­li­ches lässt sich im Bereich der visu­el­len Kom­mu­ni­ka­ti­on fest­stel­len: Je ela­bo­rier­ter ein gra­fi­sches Pro­dukt ist, je pro­fes­sio­nel­ler es gestal­tet ist, je per­fek­ter ein Cor­po­ra­te Design umge­setzt wur­de, des­to unper­sön­li­cher und weni­ger authen­tisch kann es dadurch einem Betrach­ter erscheinen.

Ich möch­te im Fol­gen­den drei The­sen aus der anti­ken Rhe­to­rik her­aus­de­stil­lie­ren, die uns nahe­le­gen, dass Glaub­wür­dig­keit und Authen­ti­zi­tät auch – oder gera­de – aus der Imper­fek­ti­on her­aus bewirkt wer­den kön­nen. Zum Schluss fol­gen eini­ge Über­le­gun­gen dazu, wie sich die auf­ge­stell­ten The­sen auf die Ana­ly­se der visu­el­len Kom­mu­ni­ka­ti­on ter­ro­ris­ti­scher Grup­pie­run­gen anwen­den las­sen könn­ten – und wo Deu­tungs­gren­zen erreicht werden.

1. Ohne Allü­ren: Das Ethos der Bescheidenheit

Das A und O des rhe­to­ri­schen Über­zeu­gens ist die capt­a­tio bene­vo­len­tiae. Ohne das Wohl­wol­len des Publi­kums haben wir als Red­ner bereits ver­lo­ren. Per­sua­si­on fin­det nicht nur auf der Ebe­ne der Argu­men­ta­ti­on und der schö­nen Wor­te statt, son­dern hängt wesent­lich von der Wahr­neh­mung ab, die die Zuhö­rer von einem Red­ner erhal­ten. Wie aber kön­nen sich Red­ner in das rech­te Licht rücken? Eine Stra­te­gie kann es sein, durch einen selbst­be­wuss­ten Auf­tritt, impo­san­te Posen und geschlif­fe­ne Wor­te das Anse­hen des Publi­kums zu gewinnen.

Schon die anti­ke Rhe­to­rik gibt aber zu beden­ken, dass Glaub­wür­dig­keit, Sym­pa­thie und Ver­trau­en manch­mal gera­de durch das gegen­tei­li­ge Vor­ge­hen zu erlan­gen sind: Beschei­den und inte­ger sol­le man dem Publi­kum viel­mehr erschei­nen. Schon Aris­to­te­les ergänz­te die For­de­rung, glaub­wür­dig zu erschei­nen, durch fol­gen­den Zusatz: »Den Anstän­di­gen glau­ben wir näm­lich eher und schnel­ler.«[1] Auch Quin­ti­li­an warnt des­halb vor dem »Groß­tun mit der eige­nen Per­son« und ganz beson­ders vor dem »Prah­len« mit der eige­nen Bered­sam­keit.[2] Wer arro­gant und über­heb­lich wirkt, ris­kie­re, beim Publi­kum auf Wider­wil­len oder gar Hass zu sto­ßen.[3]

Auch bei Cice­ro fin­den wir Stel­len, die nicht nur zu Beschei­den­heit und Zurück­hal­tung im Auf­tritt raten, son­dern sogar emp­feh­len, mit sicht­ba­rer Schüch­tern­heit und Beschä­mung auf­zu­tre­ten.[4] Der Ver­zicht auf Allü­ren gel­te dabei sogar für Red­ner, die sich sicher füh­len und gewandt vor­zu­tra­gen wis­sen.[5] Das anti­ke Beschei­den­heits-Ethos steht damit im Kon­trast zum Ide­al des stets sou­ve­rän, elo­quent und sicher auf­tre­ten­den Red­ners. Ein Zwie­spalt, den wir heu­te noch ken­nen: Was über­zeugt mehr: »Under­state­ment« oder Großspurigkeit?

Als beson­ders beschei­den galt schon in der Anti­ke die natür­li­che Art, in der die gewöhn­li­chen Men­schen aus dem Volk spre­chen, Leu­te also, die kei­ner­lei rhe­to­ri­sche Vor­bil­dung genos­sen haben. Denn die­se Men­schen, so Cice­ro, spre­chen so schlicht und ein­fach, dass »nichts den Ein­druck von Schau­stel­lung oder Nach­ah­mung erweckt«[6]. Das Unprä­ten­tiö­se kann also manch­mal über­zeu­gen­der sein – und für die Authen­ti­zi­tät des Red­ners bürgen.

In der visu­el­len Kom­mu­ni­ka­ti­on könn­te der Anschein von Beschei­den­heit und Zurück­hal­tung bei­spiels­wei­se dadurch pro­vo­ziert wer­den, dass anstatt eines gebun­de­nen Hoch­glanz­pro­spekts eine ein­fa­che, gehef­te­te Bro­schü­re aus Recy­cling­pa­pier gewählt wird. Gegen das Beschei­den­heits-Ethos spricht jedoch, dass all­zu schmuck­lo­se Rede­auf­trit­te oder qua­li­ta­tiv min­der­wer­ti­ge Gestal­tungs­mit­tel den Red­ner oder die Absen­de­rin unpro­fes­sio­nell, inkom­pe­tent oder unse­ri­ös wir­ken las­sen könn­ten. Unge­schlif­fen­heit ver­min­dert im All­ge­mei­nen auch den Ein­druck von Macht und Ein­fluss des Absenders.