Essay

Laokoon und kein Ende

Visuelle Rhetorik zwischen antiker und moderner Kunsttheorie

Von Thomas Nehrlich


In ihrem Bei­trag über die Schnitt­stel­len von Rhe­to­rik und Eido­lo­poie­tik und auf der Suche nach einer theo­re­ti­schen und his­to­ri­schen Grund­la­ge für die visu­el­le Rhe­to­rik hat Nadia J. Koch in die sophis­ti­sche Kunst­theo­rie ein­ge­führt.[1] Im Fol­gen­den möch­te ich zunächst die­se his­to­ri­sche Per­spek­ti­ve vor dem Hin­ter­grund eines neu­zeit­li­chen Kunst­ver­ständ­nis­ses kon­tex­tua­li­sie­ren, um anschlie­ßend eini­ge Aspek­te zu ergän­zen, die das dis­zi­pli­nä­re Spek­trum der visu­el­len Rhe­to­rik illustrieren.

Auf den ers­ten Blick schei­nen die Ver­knüp­fun­gen zwi­schen ver­ba­ler und visu­el­ler Dar­stel­lung offen vor Augen zu lie­gen, denn sie wer­den von unse­ren Rede­ge­wohn­hei­ten nahe­ge­legt: Wir las­sen uns von einer »luzi­den« Argu­men­ta­ti­on über­zeu­gen, wir »beleuch­ten« oder »erhel­len« Zusam­men­hän­ge; wir »malen« eine Erzäh­lung mit »far­bi­gen«, »plas­ti­schen« oder »anschau­li­chen« Details aus; wir »schil­dern« Ereig­nis­se, wir »fokus­sie­ren« den Gegen­stand unse­rer Unter­su­chung, neh­men ihn »in den Blick«. Sol­che Rede­wen­dun­gen behaup­ten eine qua­si-visu­el­le Qua­li­tät unse­rer Spra­che und rücken deren Ver­fah­ren in die Nähe opti­scher Phä­no­me­ne. Im Gegen­zug las­sen wir uns von Bil­dern Geschich­ten erzäh­len, schrei­ben Mimik und Ges­tik Bedeu­tun­gen zu, neh­men Far­ben als Signa­le wahr oder las­sen uns von ihnen in Stim­mun­gen ver­set­zen, emp­fin­den Bild­kom­po­si­tio­nen als beru­hi­gend oder erre­gend und Gestal­tungs­pa­ra­me­ter als seri­ös oder min­der­wer­tig. Mehr oder weni­ger impli­zit mes­sen wir bild­li­chen Dar­stel­lun­gen damit nar­ra­ti­ve, appel­la­ti­ve oder affek­ti­ve Funk­tio­nen bei.[2]

Die­se heu­ris­ti­schen Bele­ge für eine tief in unse­ren Sprach­ge­wohn­hei­ten ver­wur­zel­te Ver­wandt­schaft zwi­schen Spra­che und Bild täu­schen jedoch nur kurz dar­über hin­weg, dass im pro­fes­sio­nel­len und wis­sen­schaft­li­chen Dis­kurs seit Lan­gem eher die Unter­schie­de zwi­schen ver­ba­ler und visu­el­ler Dar­stel­lung reflek­tiert wer­den. Grund­le­gend für das moder­ne Ver­ständ­nis von Bild und Text als zwei­er getrenn­ter Medi­en mit unter­schied­li­chen Kom­pe­ten­zen, Funk­ti­ons­wei­sen und Wir­kungs­be­din­gun­gen ist Gott­hold Ephra­im Les­sings Abhand­lung »Lao­ko­on oder über die Gren­zen der Mahlerey und Poe­sie«, die seit ihrem Erschei­nen 1766 einen kaum zu über­schät­zen­den Ein­fluss auf die Kunst­theo­rie hat­te. Für Les­sings Auf­fas­sung der Küns­te ist das Kon­zept der Nach­ah­mung, der mime­sis zen­tral; die­se sei durch die Dar­stel­lungs­mit­tel und Zei­chen­ord­nun­gen der ver­schie­de­nen Küns­te bedingt: Wäh­rend die bil­den­de Kunst ihre Gegen­stän­de durch Anord­nung im Raum oder auf der Bild­flä­che nach­ah­men kön­ne und dadurch in einen spa­tia­len Zusam­men­hang brin­ge, sei die Lite­ra­tur durch die Nut­zung auf­ein­an­der­fol­gen­der sprach­li­cher Zei­chen an eine tem­po­ra­le Ver­mitt­lung gebun­den. Bil­der hät­ten daher beson­de­re mime­ti­sche Kom­pe­ten­zen bei der syn­chro­nen Dar­stel­lung von Kör­pern und Figu­ren, Spra­che hin­ge­gen sei vor­nehm­lich für die dia­chro­ne Dar­stel­lung von Hand­lun­gen und Ereig­nis­fol­gen geeig­net. An einer zen­tra­len Stel­le, im XVI. Kapi­tel des »Lao­ko­on«, fasst Les­sing sein Kunst­ver­ständ­nis fol­gen­der­ma­ßen zusammen: