Mythen des Alltags
Im Wartezimmer
Wo Minute um Minute verstreicht
Ein herzhaftes Schniefen aus der einen Ecke, ein gluckerndes Husten aus der anderen. Bloß nicht anstecken. Das Zimmer riecht desinfiziert, die Wartenden krank. Die Uhr an der Wand tickt vor sich hin. Minute um Minute verstreicht. Das Telefon klingelt. »Nein! 18 Uhr ist keine Sprechstunde mehr.« Gespannte Stille. Blickkontakt wird vermieden, Worte werden nicht gewechselt. Geht ja auch niemanden etwas an, warum man da ist. Die Stille wird nur ab und an unterbrochen, wenn ein neuer Eindringling die Praxis betritt. »Hallo«, »Guten Tag«, Nicken - dann fällt der Blick wieder auf die zerfledderte Illustrierte, die man sich vom Stapel gefischt hat. Minute um Minute verstreicht.
»Herr Woyj… wie auch immer«. Bitte wer? Gespannte Stille. »Woyje…ctez …« Ein anderer. Der Blick schweift ab von der Illustrierten und begutachtet den Raum. »Wer seinen Partner liebt, schickt ihn zur Darmkrebsvorsorge.« Daneben gerahmte Kunstdrucke. Nett. Ein Kunstkalender. Auch nett. Informationen über die Grippeimpfung von fies aussehenden Influenzaviren. Im Herbst vielleicht. Minute um Minute verstreicht. Der nächste Patient wird aufgerufen. Noch einmal die Illustrierte umblättern – durchgekaut. Ein paar Stühle weiter ein Uhrgucker mit finsterer Miene. Er atmet schwer aus und drückt sich auf dem Stuhl hin und her. Auf vereinzelten Stühlen liegen zerknautschte Kissen. Auf meinem nicht. Auf seinem wohl auch nicht. Der nackte Plastikstuhl unter dem Hintern zwickt. Dauert das noch lange? Minute um Minute verstreicht.
Eine Frau steht auf und holt sich etwas zu trinken. Manche schauen verwundert auf, als würde sie aus einer anderen Welt kommen. Ein Störenfried der Stille. Was nun? Erneut ein Blick auf die Uhr. Minute um Minute verstreicht. Links von mir tippeln schicke Ledertreter. Die Gesundheitsschuhe rechts haben sich die letzten dreißig Minuten nicht gerührt. Die Uhr an der Wand tickt vor sich hin. Endlich: der erlösende Satz.