Buchbesprechung
»Die Welt ist ein großes Fest der Farben«
Kenya Hara taucht ein in die Tiefen von Weiß
Was ist eigentlich Weiß? Wann ist etwas weiß? Und wie steht Weiß in Relation zu Ästhetik und Kommunikation in unserer Gesellschaft? Kenya Hara nimmt den Leser in seinem Buch mit auf eine Reise in die physikalische, philosophische und kulturelle Manifestation von Weiß und deckt Schritt für Schritt die bedeutungsschwere Lebensphilosophie hinter diesem Wort auf. »Weiß«, das ist kein Buch über Farbe, es geht vielmehr um das Ergründen von Weiß und der tiefer greifenden Beziehung von Weiß zu »Leere«.
Das Buch, geschrieben vom japanischen Designer, Professor und Art Director Kenya Hara (*1958), ist, entsprechend dem Titel, in schlichtem Weiß gehalten und wurde 2010 vom Lars Müller Verlag publiziert. Die 86 Seiten wurden von Anita Brockmann aus dem Japanischen ins Deutsche übersetzt. In vier Kapiteln tastet sich der Autor Schritt für Schritt an die Ergründung von Weiß heran und lässt den Leser durch einen poetischen und malerischen Schreibstil ganz nah am diesem Prozess teilhaben.
In »Die Entdeckung von Weiß« fokussiert sich Hara auf die physikalischen Eigenschaften von Weiß und damit einhergehend ihre philosophische Deutung. Eigentlich als »Nichtfarbe« definiert, hat der Begriff in der traditionellen japanischen Farblehre seinen Ursprung in dem Wort »shiroshi«, das für Klarheit und Vollkommenheit steht. Dadurch hebe sich Weiß ganz klar vom »Chaos«, also allen Farben dieser Erde, ab. Es schwebt per Definition über allem anderen. Der Verfasser beschreibt Weiß als die ursprüngliche Form von Leben beziehungsweise Information, die aus dem Chaos entsteht. Jegliches Weiß, das wir hier auf der Erde wahrnehmen, ist »unrein und kontaminiert« und lediglich eine Illusion. Somit steht Weiß für pures Leben und symbolisiert den von jedem Wesen angestrebten Zustand.
Papier ist Weiß. Es ist ein Medium, das die Kreativität stimuliert und Impulse zur Kommunikation gibt. Folglich ist Papier materialisierte Klarheit und ragt aus dem Chaos heraus. Mit dieser Schlussfolgerung baut der Autor im zweiten Kapitel »Papier« auf dem vorherigen Kapitel auf. Er taucht zusammen mit dem Leser in die Ursprünge der Papierherstellung und Typografie ein und definiert das Geheimnis einer harmonischen Komposition aus beiden Komponenten. »Buchstaben haben im Kontrast zu dem Weiß, das sie umgibt, als Objekte eine eigenständige Schönheit entwickelt, die sich tiefschwarz in das Papier geprägt hat.« (S.39) Auf nahbare und sympathische Art und Weise beschreibt Kenya Hara in diesen Passagen auch seine persönliche Auseinandersetzung als Designer mit Papier.
»Ein Zustand, in dem nichts ist, bietet die Möglichkeit, ihn mit irgendetwas zu füllen.« (S.45) Das Prinzip der »Leere«, ein Zustand in dem nichts ist, erläutert der Autor facettenreich im dritten Kapitel, genannt »der leere Raum«. Er stellt die Nichtfarbe »Weiß« gleich dem Begriff des »Nicht-Seins« und verweist gleichzeitig auf das enorme Potential, diese »Leere« zu füllen. Anschaulich demonstriert Hara den »leeren Raum« anhand von religiösen Bauten des japanischen Schintoismus, er gibt Beispiele aus der japanischen Kommunikationskultur des »Nicht Sagen« und analysiert die Ausdruckskraft von Symbolen, die letztendlich auch nur mit »leeren Gefäßen« gleichzusetzen sind, die man mit allen erdenklichen Bedeutungen füllen kann (vgl. S.56). Am Exempel der schlichten japanischen Teezeremonie leitet Kaya schließlich zum Begriff der Ästhetik in Bezug auf Design über. Durch literarische Stilmittel, wie etwa Metapher und Vergleich, wird das Wirken von Schlichtheit, Einfachheit und Reduktion auf gelungene Gestaltung erläutert.
»Hin zu Weiß« – auf den letzten zehn Seiten führt der Autor auch Weiß zur Vollendung. Der Schlüssel zu Weiß, so sagt er, liegt weniger im Wissen als vielmehr im Verstehen von Dingen. »Wissen (…) lähmt unser Bewusstsein und lässt es im Sumpf der Erkenntnis versinken. Verstehen bedeutet, aus diesem Sumpf ein Bewusstsein herausziehen (…)« (S. 83) Der Leser wird dafür sensibilisiert, dass Weiß nicht einfach da ist. Es bedarf Zeit, Pflege und Geduld, sich Weiß zu nähern. Es ist, so Hara, ein Prozess der nach Vollendung strebt, und vielleicht bringt alleine diese Erkenntnis den Leser des Buches dem Verständnis von Weiß ein Stückchen näher.
Mit Weiß hat Kenya Hara eine anspruchsvolle Lektüre geschaffen, die nicht nur Designer von den ersten Sätzen an in den Bann zieht. Der Band ist Wissensvermittler, zugleich aber auch mit »Weißraum« gespickter Impulsgeber, um beim Lesen innezuhalten und zu hinterfragen. Hara sensibilisiert für den Umgang mit Weiß und regt dazu an, den ganz persönlichen Blick auf die Welt zu ändern. Weiß – ein Buch, das auch in der deutschen Fassung vollkommen überzeugen kann.