Buchbesprechung
»Die Kunst soll unfrei werden«
Hanno Rauterberg über einen neuen Kulturkampf
In seinem Essay »Wie frei ist die Kunst?« zielt Hanno Rauterberg in jedem der sechs aufeinander aufbauenden Kapiteln auf die Beantwortung einer Leitfrage ab, die der Frage nach der Kunstfreiheit untergeordnet ist. Rauterberg zufolge sei schon öfter zu beobachten gewesen, dass die Unfreiheit der Kunst in Kauf genommen wird, wenn sich »Minderheiten (…) auf ihre Ängste und unguten Gefühle berufen« (S. 16), sobald sie sich von der Kunst bedroht oder eingeschränkt fühlen. Die Frage darum, wie frei denn die Kunst tatsächlich ist, ist laut Rauterberg zu einem »Kulturkampf entbrannt« (S. 11), in dem nicht nur das »Sag- und Zeigbare« (S. 20), sondern auch der Freiheitsbegriff neu definiert werden muss.
Er sensibilisiert die Leser anhand von realen Fallbeispielen für die Thematik und schreitet verbal die »Frontverläufe dieses Kulturkampfs« (S. 12) ab. Dabei nimmt er vielfältige, authentische Blickwinkel von Protagonisten ein und lässt Stimmen unterschiedlicher Akteure erklingen, deren Bewegründe nachvollziehbar und plausibel erscheinen. In der ausführlichen dargelegten hitzigen Debatte um das Gemälde von Dana Schutz »Open Casket« zeigt Rauterberg deutlich auf, dass heute im Prinzip »jede diskriminierte Gruppe ein Ausdrucks- und Zugriffsverbot verlangen« (S. 28) kann. Im Falle der Künstlerin Dana Schutz wurde ihr praktisch das Recht auf »eine ästhetische Auseinandersetzung mit der schwarzen Leidensgeschichte« (S. 28) abgesprochen, obwohl es doch seit jeher im künstlerischen Tun auch um das Hineindenken in andere Menschen und andere Zeiten geht. Vor allem in den sozialen Netzwerken »fanden sich zahlreiche Unterstützer« (S. 32), die – vom »Verlangen nach Gerechtigkeit« (S. 33) oder »im Namen der Gleichberechtigung« (S. 35) getrieben – sich selbstverständlich für das Verbot des Gemäldes auf Kosten der Kunstfreiheit aussprachen.
Der Künstler Sam Durant soll sogar seine Eigentumsrechte an seiner Skulptur abgegeben haben, die kurz darauf von neuen Besitzern »vergraben« (S. 42) wurde, so sehr hatte die Kunst aufgewühlt. Rauterberg deckt aber auch gleichzeitig auf, dass erst aufgrund der Bemühungen um das »Verbergen (…) die Werke deutlich« hervortreten (S. 85). Der Perspektivwechsel von »Makro- und Mikrokonflikten« (S. 19) ist keineswegs störend, vielmehr betont er die Brisanz des Themas und versucht, die Gesamtheit zu erfassen.
Rauterberg beleuchtet für den Leser Hintergründe und stellt Motive, Mechanismen und wertvolle Kernwerte der Debatte heraus. Immer wieder tauchen erfrischende Umschreibungen, Metaphern oder Wortneuschöpfungen auf, wie z. B. »Klicktivismus« (S. 14) oder »Entsetzensstürme« (S. 17). Ihm gelingt es, komplexe Themen anhand von Streitfällen für den Leser auf den Punkt zu bringen. Mittels dieser Streitfälle zeigt Hanno Rauterberg gedankliche Spannungsfelder auf und gibt immer wieder Denkanstöße: »Die Kritik an der Künstlerin und ihren Werken ebenfalls als Angriff zu werten, blieb in dem Konflikt undiskutiert.« (S. 57)
Zwar setzt der Essay von Rauterberg ein grundlegendes Interesse an der Kunst voraus, doch er hält das, was er auf dem Klappentext verspricht: Er verschafft auf 141 Seiten einen guten Überblick über die aktuelle Lage der Kunst und ihre hitzige Debatte um Moral und Ästhetik. Betrachtet man beide Seiten, Künstler und Minderheit, so findet auch der Autor in seinem Essay noch keine Antwort auf die Frage, wer eigentlich bestimmt, »wessen Gefühle die verletzteren sind.« (S. 44) In einer verständlichen und erfrischend lebhaften Sprache führt Rauterberg tief durchdacht in diese Themen ein.