Essay
Die GIGA-Adaptionsmethode
Aptum: Stilschulung im Hochschulschreibunterricht
1 Ausgangslage: Schreiben als Qual
Die Gefühle, die Studierende an einer angewandten Hochschule ihrem eigenen Schreiben entgegenbringen, sind erfahrungsgemäß[1] oft negativ. Abb. 1 zeigt ein typisches Meinungsbild, wie es 2021 bei einer Erstsemesterveranstaltung im Fach Wirtschaftsingenieurwesen Maschinenbau eingeholt wurde[2]. Zwar gibt es einige Stimmen, die die Nützlichkeit des Schreibens hervorheben und dessen kommunikative, epistemische, dokumentarische oder kreative Funktion benennen, doch sind die vornehmlichen Assoziationen Anstrengung, Mühe und Qual. Ablehnung und Verweigerung werden offen geäußert, in dieser anonymen digitalen Umfrage ebenso deutlich wie sonst im Unterrichtsgespräch.
Abbildung 4: Arbeitsblatt zur Gruppenübung (Ausschnitt)
Wie kommt es nach zwölf Jahren Deutschunterricht mit all seinen Aufsätzen, Erörterungen und Interpretationen zu diesem verheerenden Stimmungsbild? Offenbar vermag das Schulfach bei vielen keine nachhaltige Begeisterung zu wecken, weder für die freiwillige Beschäftigung mit Literatur[3] noch für das akademische Schreiben, noch für die beruflichen Schreibaufgaben, die unvermeidlich zu erfüllen sein werden und Karrierechancen mitentscheiden.
Dass Umfang und Bedeutung des Schreibens in so gut wie jedem Beruf im Wachsen begriffen sind, ist als Folge der Digitalisierung und der Verrechtlichung der Arbeitswelt schlichtweg ein Faktum. Die damit einhergehende Verschriftlichung bedeutete einen enormen Anstieg der kommunikativen, dokumentarischen, vertraglichen, datenschutzrechtlichen und buchhalterischen Vorgänge. Den Studierenden ist dies oft nicht bewusst, vielmehr hoffen sie, etwa durch die Wahl eines technischen Studienfachs, dem Schreiben ein für allemal entronnen zu sein – ein Trugschluss, beschäftigen sich doch z. B. Ingenieure weit über die Hälfte ihrer Arbeitszeit mit der Lektüre und Erstellung anforderungsreicher Textsorten[4].
Ist die Genie-Ästhetik vergangener Jahrhunderte – »Poeta nascitur, non fit«[5] – eine weitere Ursache für das schlechte Image des Schreibens bei den Studierenden? Die Vorstellung, dass sich beim Schreiben das angeborene Talent zeige oder eben nicht, kann in Kombination mit vergangenen Misserfolgen tatsächlich tiefe Selbstzweifel und Mutlosigkeit erzeugen.
Eine passende Replik darauf liefert Hemingway, der in Bezug auf sein eigenes Schreiben gesagt haben soll: “The first draft of anything is sh.”[6]. Im Unterricht verwendet, offenbart dieses Zitat, dass auch bei genialen Weltschriftstellern die Arbeit am Text mit der Rohfassung beginnt – und nicht etwa endet. Um falschen Vorstellungen zu begegnen, ist es wichtig, diese für Schreibexperten so selbstverständliche Tatsache im Unterricht explizit zu machen.
2 Mündlichkeit versus Schriftlichkeit
Die wichtigste Ursache für die studentische Schreibunlust offenbart sich, sobald man die Sprech- mit der Schreibsituation vergleicht. Im mündlichen Gespräch vollzieht sich ein unbewusster, subtiler und fortwährender Anpassungsprozess[7], der eine umfangreiche Palette an Zuschreibungen über Wissen und Vorlieben, Stimmungen, Empfänglich- und Empfindlichkeiten des Gegenübers einbezieht. Über Jahrzehnte haben sich Empathie und Menschenkenntnis, Taktgefühl und Einfühlungsvermögen, Höflichkeit und Umgangsformen in uns entwickelt und verfeinert. In der Sprechsituation erlaubt uns dieses hochentwickelte Vermögen eine automatische Anpassung des Sprachniveaus, meist unbemerkt und mühelos, obgleich es uns auch möglich ist, den Vorgang bewusst zu steuern und wahrzunehmen.
In der Schreibsituation fehlen die Auslöser, die den beschriebenen Adaptions-Automatismus in Gang setzen könnten. Wir sehen kein Gesicht, keine Mimik und Gestik, wir hören keinen Tonfall und erhalten auch sonst keine Signale, die uns helfen könnten, uns in die Situation einzufinden. Stattdessen sehen wir einen leeren Bildschirm oder ein weißes Blatt Papier. Die Schwierigkeiten vieler Studierender, überhaupt ins Schreiben zu kommen und dann noch den rechten Ton zu treffen, erscheinen vor dieser Folie allzu verständlich.
- [1] Die Verfasserin lehrt seit über einem Jahrzehnt wissenschaftliches Schreiben an der HTWG Konstanz, einer Hochschule für angewandte Wissenschaften, die technische, wirtschaftliche und gestalterische Fächer unter ihrem Dach vereint.
- [2] Anonyme Online-Umfrage 2021 via Mentimeter unter 25 Erstemesterstudierenden im Fach Wirtschaftsingenieurwesen Maschinenbau an der Hochschule Konstanz, Mehrfachantworten möglich.
- [3] Bei einer nicht-repräsentativen Umfrage unter 23 Studierenden im Studium generale der Hochschule Konstanz gaben 2021 80 % an, niemals Erzählliteratur zur Hand zu nehmen. 20 % lesen hingegen täglich und teilweise über eine Stunde. Diese Angabe deckt sich mit der Erfahrung aus diversen Leseworkshops: auf die Frage nach einer Buchempfehlung für die Kommilitonen antwortete ein Großteil der Teilnehmenden entweder mit einem Selbstoptimierungsratgeber oder wusste gar keinen Titel zu nennen. Romane, das eigentlich intendierte Ziel der Frage, wurden nur von vereinzelten Teilnehmenden empfohlen. Dabei handelte es sich dann vor allem um englischsprachige Thriller.
- [4] VDI-Richtlinienautor Ebersold zählt folgende ingenieurtypische Schreibanlässe auf: »Es fallen sehr verschiedene Textsorten an. Da gibt es zum einen Berichte und Protokolle, den Mailverkehr und Präsentationen, die man beinahe täglich zu erstellen hat. (…) Dann gibt es die (…) Technische Dokumentation als Textsorte. Sie beinhaltet insbesondere Konstruktionsbeschreibungen, (…) überaus umfassende und komplexe Softwaredokumentationen, (…) Normen und Richtlinien, Spezifikationen, Beschreibungen von beispielsweise Berechnungsvorgängen, dann aber auch technische Vorgaben für die Produktion und (…) Qualitätssicherung (…), sehr viel Testdokumentation usw.« (Ebersold, Scheffel 2021, S. 44). Zu Studien zum Zeitaufwand für Schreibaufgaben im Ingenieurberuf vgl. Brandt 2013, S. 3–4.
- [5] »Der Dichter wird geboren, nicht gemacht«, antiker Aphorismus umstrittenen Ursprungs; Provenienzforschung liefert Ringler 1941.
- [6] Zit. nach Hemingways Freund Samuelson 1984, S. 11.
- [7] Zur Dynamik dieses Modifikationsprozesses, der fortwährenden Synchronisation zwischen den Kommunikationspartnern und dem Aushandeln von Angemessenheit, vgl. Bülow und Krieg-Holz, die die »ethnografisch-interaktionale() und pragmastilistische() Perspektive« (Bülow, Krieg-Holz 2015, S. 111) auf den Vorgang zusammenführen.