Buchbesprechung
»Im Streitfall liegen unsere Instinkte daneben«
Tali Sharot: Unsere Meinungen sind alles andere als objektiv
Wer an die reine Vernunft glaubt, wird bei der Lektüre manche Kröte schlucken müssen. Neurowissenschaftlerin Tali Sharot erläutert in ihrem Buch »Die Meinung der anderen. Wie sie unser Denken und Handeln bestimmt – und wie wir sie beeinflussen«, wie sehr wir von Gefühlen getrieben werden. Die Autorin greift für ihre Rückschlüsse auf zahlreiche Studien und Versuche zurück, erzählt plausibel anhand von Beispielen und menschlichen Erfahrungen. Da sind zum Beispiel Impfgegner, die sich auch durch die Androhung ernster gesundheitlicher Gefahr nicht zur Impfung überreden lassen; Football-Teams, deren Erfolgsserie abbricht und deren Moral schwindet; Ehepaare, die sich nicht auf einen Wohnort einigen können. Alles Situationen, die jeder Leser nachvollziehen kann und in denen sich die Fragen stellen: Wie überzeugen wir andere? Wie werden wir überzeugt?
Um diese Fragen zu beantworten, blickt Sharot in das Körperteil, in dem sich alle unsere Wünsche, Träume, Ängste, Ziele und Überlegungen abspielen: das menschliche Gehirn. Ein rätselhaftes Organ, das ganz offenbar dem sachlichen Argument nur dann etwas abgewinnen kann, wenn es in unseren Kram passt. Denn Sharot konstatiert, »dass Fakten und Logik leider Gottes nicht die wirksamsten Mittel sind, wenn es darum geht, an Meinungen zu rütteln«. Oder kurz: »Im Streitfall liegen unsere Instinkte daneben.« (S. 23) Haben wir uns nämlich erst einmal auf eine Meinung eingeschossen, suchen wir instinktiv nach Bestätigung, so die Autorin. Da helfe dann auch ein Mehr an Informationen und Daten nicht, die wir blitzschnell danach filtern, was uns bestätigt – um den Rest dann einfach unter den Tisch fallen zu lassen.
Sharots Analyse mischt biologische Erkenntnis mit psychologischen Phänomenen, um zu beschreiben, was man immer geahnt hat: Menschen sind beeinflussbarer als man denkt – allerdings nicht von Fakten, sondern von Gefühlen. Facebook-Nutzer, denen vermehrt positive Nachrichten gezeigt werden, posten selbst positivere Mitteilungen als solche, die mit negativen News versorgt werden (ja, das hat Facebook im Jahr 2012 ganz offenbar an über 500 000 Nutzern ausprobiert …). Online-Bewertungen werden enorm vom allerersten Kommentar beeinflusst. Mündliche Feedback-Runden enden verdächtig oft einstimmig. Und auch eingebildete Krankheiten können ansteckend sein.
Im Buch geht es um Angst, Kontrolle, Stressempfinden und soziales Lernen. Immer wird den Kapiteln eine Szene vorangestellt, die den Untersuchungsgegenstand ins richtige Leben holt und am Fallbeispiel zeigt, was uns zu welchen Handlungen (oder zur Tatenlosigkeit) bewegt. Dennoch sind wir den unbewussten Abläufen in unserem Oberstübchen nicht hilflos ausgeliefert. Sharot empfiehlt die Erkenntnisse zu nutzen – zum einen, um sich der eigenen Gefühlswelt bewusst zu werden und ihr zumindest zu misstrauen. Und zum anderen, um – natürlich – andere zu beeinflussen. Menschen handeln, wenn sie belohnt werden, wenn es gelingt, ein gemeinsames Ziel zu formulieren, wenn sie das Gefühl haben, selbst die Kontrolle über ihr Tun zu haben. Soweit in Kürze. Und als Ausweg aus den Filter-Bubbles empfiehlt die Professorin Dinge, die man gar nicht oft genau sagen kann: Anonymität im Netz wahren, die Suchhistorie ausschalten – und vor allem auch Menschen in sozialen Medien folgen, die man respektiert, obwohl sie eine andere Meinung vertreten als man selbst.