Essay
Kampfbegriff »Disruption«
Mit Begriffen Krisen einfangen oder auslösen
“Disruptive innovation is a theory about why businesses fail. It’s not more than that. It doesn’t explain change. It’s not a law of nature. It’s an artifact of history, an idea, forged in time; it’s the manufacture of a moment of upsetting and edgy uncertainty. Transfixed by change, it’s blind to continuity. It makes a very poor prophet.”[1]
Einleitung: Zwei Weisen des Missbrauchs von Begriffen
Zunächst seien zwei Stränge betrachtet, entlang derer man eine Umdeutung bis hin zur missbräuchlichen Verwendung von Begriffen beobachten kann. Der erste Strang führt zur Umdeutung von Beschreibungen durch Euphemismen, also schönfärberischen Ausdrücken, die die Härte der zu beschreibenden Umstände verschleiern sollen. So benutzte man in den 80er Jahren statt der verständlichen Bezeichnung »altersbedingtes Nachlassen der Arbeitskraft« den Ausdruck »leistungsgewandelt«. Der zweite Strang bezieht sich auf das, was ich Begriffsdiebstahl nennen möchte, also die Verwendung von Begriffen, die in einem bestimmten, meist fachlichen Kontext, eine wohl definierte Bedeutung haben, in einem völlig anderen Kontext. Der Effekt besteht dann darin, dass die Bedeutung des ursprünglichen Begriffs vernebelnd mitschwingt und auf den Rezipienten eindrucksvoll wirken soll.
Zum ersten Strang: Das Potential der Verlogenheit bei euphemistischen Begriffen ist hinlänglich bekannt. Drei Beispiele mögen genügen: Russlands Krieg gegen die Ukraine wird in Russland mit dem strafrechtlich durchgesetzten Begriff der »militärischen Spezialoperation« verharmlost. Die Organisation der Morde an mehr als sechs Millionen Juden durch das »Dritte Reich« wurde auf der berüchtigten Wannseekonferenz »Endlösung« genannt. Erfahrungsgemäß spricht bei Kriegen der jeweilige militärische Angreifer von »Verteidigung« und nimmt damit das Narrativ eines gerechten Krieges für sich in Anspruch.[2]
Weniger kriegerisch geht es in der Ökonomie zu, doch auch hier lassen sich verharmlosende Begriffe finden – so die »schöpferische Zerstörung«, ein Begriff, der von dem Ökonomen Josef Schumpeter stammt. Dort bezeichnet er in deskriptiver Absicht den Umstand, dass bei wirtschaftlichen, organisatorischen und technologischen Veränderungen neue Strukturen aufgebaut und zwangsläufig alte Strukturen beseitigt werden.[3] Man kann es auch anders ausdrücken: Jede Innovation, die eine bisher funktionierende technisch-organisatorische Struktur verbessert oder ersetzt, eliminiert zumindest Teile dieser Struktur, auch wenn zuweilen alte und neue Technologien parallel existieren. In diesen Strukturen sind allerdings Menschen tätig, d. h. es wird bei solchen Vorgängen immer Gewinner und Verlierer geben. Im betriebswirtschaftlichen Neusprech wird statt von »Personalmanagement« von »Human Ressource Management« gesprochen, Entlassungen werden mit Vokabeln wie »Ausstellungen« oder »Freisetzungen« verschönt.
Beim zweiten Strang ist die Usurpation von Begriffen aus einem Fachgebiet oder soziosprachlichen Kontext in den eigenen Sprachbereich Anlass heftiger Verwirrung. Diese bekommen vor allem diejenigen zu spüren, die sich dem mühevollen Unterfangen interdisziplinärer Arbeit widmen. Diese Usurpation ist durchaus gegenseitig. So hat schon die frühe Psychologie die technische »Dampfmaschinen«-Metapher zur Erklärung von psychischen Spannungen und psychischen »Druck« benutzt.[4] Die Alltagspsychologie spricht bei Erschöpfungszuständen von der Notwendigkeit, die »Batterien wieder aufzuladen«, und die Tiefenpsychologie wie die Soziologie haben Begriffe aus der Mathematik und den Naturwissenschaften übernommen und fröhlich umgedeutet. Da diese Umdeutungen durch eine vielerorts bemerkbare mangelnde Definitionsbereitschaft der einschlägigen Autoren vielen Rezipienten nicht klar gemacht werden, toben ab diesem Zeitpunkt der »Übernahme« die Begriffskriege.
Ein bekanntes Beispiel ist Niclas Luhmann, der in seiner soziologische »Systemtheorie« mit Begriffen wie Komplexität, Redundanz, Stabilität, Rückkopplung, Interpenetration, Information etc.[5] hantiert, die zum Teil aus der mathematischen Systemtheorie und Regelungstheorie stammen und dort wohldefiniert sind. Luhmann definiert diese Begriffe um, aber diese Definitionen verändern sich im Laufe seiner Überlegungen, getreu dem Hegelschen Motto von der »Bewegung des Begriffs«.[6] Die sog. Sokal-Affäre[7] hat gezeigt, wie man sich in psychoanalytischen, sozialpsychologischen und feministischen Theorien solcher mathematischer und naturwissenschaftlicher Begriffsbildungen gerne bedient. Sie werden entkontextualisiert, umgedeutet und es wird der Anschein erweckt, dass diese Begriffe auch in diesem Kontext noch ihre ursprüngliche Bedeutungsschwere, begriffliche Dignität und semantische Präzision wie im ursprünglichen Kontext hätten. Darin besteht ihr Missbrauch.
Umgekehrt verwendet die Mathematik unbescholten Begriffe aus dem Alltag und definiert sie um, allerdings präzise: Gruppe, Ring, Körper, Pfad, Raum, Stetigkeit, Kontinuität, rational, irrational, imaginär oder Kategorie, um nur einige zu nennen.[8] Da die »Um«-Definitionen schon immer gemacht wurden, wurden sie Bestandteil des mathematischen Vokabulars, und damit besteht hier weder eine begriffliche Unklarheit noch gibt es semantische Mitnahmeeffekte aus dem Ursprungsbereich der Begriffe.
- [1] Leopore (2014). »Die Theorie der ›Disruptiven Innovation‹ ist eine Theorie darüber, warum Geschäftsmodelle scheitern. Mehr nicht. Sie ist nicht in der Lage, Wandel zu erklären. Sie ist kein Naturgesetz. Sie ist ein Konstrukt der Geschichte, eine Idee, die für ihre Entstehungszeit geschmiedet wurde. Sie ist das Produkt eines Augenblicks der Aufregung und nervöser Ungewissheit. Durch ihre Fixierung auf den Wandel ist sie blind für Kontinuität. Ihre Prognosekraft ist sehr gering.« Dt. Übersetzung zitiert nach Wikipedia-Artikel: Disruptive Technologie. In: https://de.wikipedia.org/wiki/Disruptive_Technologie.
- [2] Das Thema des gerechten Krieges ist nicht neu, vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae II, II, qu. 40, art. 1. In: Thomas von Aquin (1985), S. 187—190.
- [3] Schumpeter (1911).
- [4] Wieser (2010); Freud (1961), z. B. S. 604. In seiner Psychologie der Traumvorgänge spricht er überraschend oft vom seelischen Apparat und von Systemen als deren Bestandteile; vgl. 542 ff.
- [5] Luhmann (1985).
- [6] Hegel (1999) Phänomenologie des Geistes. Vorrede XLVII-LI, S. 32, Zeile 35.
- [7] Sokal, Bricmont (1999).
- [8] Siehe Lehrbücher der Mathematik.