Essay

Kampfbegriff »Disruption«

Mit Begriffen Krisen einfangen oder auslösen

Von Klaus Kornwachs


Dis­rup­ti­ve inno­va­ti­on is a theo­ry about why busi­nesses fail. It’s not more than that. It doesn’t explain chan­ge. It’s not a law of natu­re. It’s an arti­fact of histo­ry, an idea, for­ged in time; it’s the manu­fac­tu­re of a moment of upset­ting and edgy uncer­tain­ty. Trans­fi­xed by chan­ge, it’s blind to con­ti­nui­ty. It makes a very poor pro­phet.”[1]

Ein­lei­tung: Zwei Wei­sen des Miss­brauchs von Begriffen

Zunächst sei­en zwei Strän­ge betrach­tet, ent­lang derer man eine Umdeu­tung bis hin zur miss­bräuch­li­chen Ver­wen­dung von Begrif­fen beob­ach­ten kann. Der ers­te Strang führt zur Umdeu­tung von Beschrei­bun­gen durch Euphe­mis­men, also schön­fär­be­ri­schen Aus­drü­cken, die die Här­te der zu beschrei­ben­den Umstän­de ver­schlei­ern sol­len. So benutz­te man in den 80er Jah­ren statt der ver­ständ­li­chen Bezeich­nung »alters­be­ding­tes Nach­las­sen der Arbeits­kraft« den Aus­druck »leis­tungs­ge­wan­delt«. Der zwei­te Strang bezieht sich auf das, was ich Begriffs­dieb­stahl nen­nen möch­te, also die Ver­wen­dung von Begrif­fen, die in einem bestimm­ten, meist fach­li­chen Kon­text, eine wohl defi­nier­te Bedeu­tung haben, in einem völ­lig ande­ren Kon­text. Der Effekt besteht dann dar­in, dass die Bedeu­tung des ursprüng­li­chen Begriffs ver­ne­belnd mit­schwingt und auf den Rezi­pi­en­ten ein­drucks­voll wir­ken soll.

Zum ers­ten Strang: Das Poten­ti­al der Ver­lo­gen­heit bei euphe­mis­ti­schen Begrif­fen ist hin­läng­lich bekannt. Drei Bei­spie­le mögen genü­gen: Russ­lands Krieg gegen die Ukrai­ne wird in Russ­land mit dem straf­recht­lich durch­ge­setz­ten Begriff der »mili­tä­ri­schen Spe­zi­al­ope­ra­ti­on« ver­harm­lost. Die Orga­ni­sa­ti­on der Mor­de an mehr als sechs Mil­lio­nen Juden durch das »Drit­te Reich« wur­de auf der berüch­tig­ten Wann­see­kon­fe­renz »End­lö­sung« genannt. Erfah­rungs­ge­mäß spricht bei Krie­gen der jewei­li­ge mili­tä­ri­sche Angrei­fer von »Ver­tei­di­gung« und nimmt damit das Nar­ra­tiv eines gerech­ten Krie­ges für sich in Anspruch.[2]

Weni­ger krie­ge­risch geht es in der Öko­no­mie zu, doch auch hier las­sen sich ver­harm­lo­sen­de Begrif­fe fin­den – so die »schöp­fe­ri­sche Zer­stö­rung«, ein Begriff, der von dem Öko­no­men Josef Schum­pe­ter stammt. Dort bezeich­net er in deskrip­ti­ver Absicht den Umstand, dass bei wirt­schaft­li­chen, orga­ni­sa­to­ri­schen und tech­no­lo­gi­schen Ver­än­de­run­gen neue Struk­tu­ren auf­ge­baut und zwangs­läu­fig alte Struk­tu­ren besei­tigt wer­den.[3] Man kann es auch anders aus­drü­cken: Jede Inno­va­ti­on, die eine bis­her funk­tio­nie­ren­de tech­nisch-orga­ni­sa­to­ri­sche Struk­tur ver­bes­sert oder ersetzt, eli­mi­niert zumin­dest Tei­le die­ser Struk­tur, auch wenn zuwei­len alte und neue Tech­no­lo­gien par­al­lel exis­tie­ren. In die­sen Struk­tu­ren sind aller­dings Men­schen tätig, d. h. es wird bei sol­chen Vor­gän­gen immer Gewin­ner und Ver­lie­rer geben. Im betriebs­wirt­schaft­li­chen Neu­sprech wird statt von »Per­so­nal­ma­nage­ment« von »Human Res­sour­ce Manage­ment« gespro­chen, Ent­las­sun­gen wer­den mit Voka­beln wie »Aus­stel­lun­gen« oder »Frei­set­zun­gen« verschönt.

Beim zwei­ten Strang ist die Usur­pa­ti­on von Begrif­fen aus einem Fach­ge­biet oder sozio­sprach­li­chen Kon­text in den eige­nen Sprach­be­reich Anlass hef­ti­ger Ver­wir­rung. Die­se bekom­men vor allem die­je­ni­gen zu spü­ren, die sich dem mühe­vol­len Unter­fan­gen inter­dis­zi­pli­nä­rer Arbeit wid­men. Die­se Usur­pa­ti­on ist durch­aus gegen­sei­tig. So hat schon die frü­he Psy­cho­lo­gie die tech­ni­sche »Dampfmaschinen«-Metapher zur Erklä­rung von psy­chi­schen Span­nun­gen und psy­chi­schen »Druck« benutzt.[4] Die All­tags­psy­cho­lo­gie spricht bei Erschöp­fungs­zu­stän­den von der Not­wen­dig­keit, die »Bat­te­rien wie­der auf­zu­la­den«, und die Tie­fen­psy­cho­lo­gie wie die Sozio­lo­gie haben Begrif­fe aus der Mathe­ma­tik und den Natur­wis­sen­schaf­ten über­nom­men und fröh­lich umge­deu­tet. Da die­se Umdeu­tun­gen durch eine vie­ler­orts bemerk­ba­re man­geln­de Defi­ni­ti­ons­be­reit­schaft der ein­schlä­gi­gen Autoren vie­len Rezi­pi­en­ten nicht klar gemacht wer­den, toben ab die­sem Zeit­punkt der »Über­nah­me« die Begriffskriege.

Ein bekann­tes Bei­spiel ist Nic­las Luh­mann, der in sei­ner sozio­lo­gi­sche »Sys­tem­theo­rie« mit Begrif­fen wie Kom­ple­xi­tät, Red­un­danz, Sta­bi­li­tät, Rück­kopp­lung, Inter­pe­ne­tra­ti­on, Infor­ma­ti­on etc.[5] han­tiert, die zum Teil aus der mathe­ma­ti­schen Sys­tem­theo­rie und Rege­lungs­theo­rie stam­men und dort wohl­de­fi­niert sind. Luh­mann defi­niert die­se Begrif­fe um, aber die­se Defi­ni­tio­nen ver­än­dern sich im Lau­fe sei­ner Über­le­gun­gen, getreu dem Hegel­schen Mot­to von der »Bewe­gung des Begriffs«.[6] Die sog. Sokal-Affä­re[7] hat gezeigt, wie man sich in psy­cho­ana­ly­ti­schen, sozi­al­psy­cho­lo­gi­schen und femi­nis­ti­schen Theo­rien sol­cher mathe­ma­ti­scher und natur­wis­sen­schaft­li­cher Begriffs­bil­dun­gen ger­ne bedient. Sie wer­den ent­kon­tex­tua­li­siert, umge­deu­tet und es wird der Anschein erweckt, dass die­se Begrif­fe auch in die­sem Kon­text noch ihre ursprüng­li­che Bedeu­tungs­schwe­re, begriff­li­che Digni­tät und seman­ti­sche Prä­zi­si­on wie im ursprüng­li­chen Kon­text hät­ten. Dar­in besteht ihr Missbrauch.

Umge­kehrt ver­wen­det die Mathe­ma­tik unbe­schol­ten Begrif­fe aus dem All­tag und defi­niert sie um, aller­dings prä­zi­se: Grup­pe, Ring, Kör­per, Pfad, Raum, Ste­tig­keit, Kon­ti­nui­tät, ratio­nal, irra­tio­nal, ima­gi­när oder Kate­go­rie, um nur eini­ge zu nen­nen.[8] Da die »Um«-Definitionen schon immer gemacht wur­den, wur­den sie Bestand­teil des mathe­ma­ti­schen Voka­bu­lars, und damit besteht hier weder eine begriff­li­che Unklar­heit noch gibt es seman­ti­sche Mit­nah­me­ef­fek­te aus dem Ursprungs­be­reich der Begriffe.