»Zunächst stoßen wir auf das, wovon sich jemand getroffen, angerührt, angesprochen oder verletzt fühlt. Das Wovon des Getroffenseins bezeichne ich wechselnd als Pathos, Widerfahrnis oder Affekt. In dem griechischen Wort Pathos, das sowohl die Leideform des Passivs, das Leiden unter Widrigem wie die gesteigerte Form der Leidenschaft bezeichnet, überwiegt das Moment der Passivität. Das deutsche Wort Widerfahrnis betont den Aspekt einer Gegenerfahrung, die unseren eigenen Plänen und Erwartungen zuwiderläuft. Das lateinische Wort Affekt, das wörtlich als eine Art An-tun und nicht wie vielfach üblich als bloßer Zustand zu verstehen ist, hebt die Wirkung hervor, die jemand erleidet. Diese ›erlebte Wirksamkeit‹, die von unserer kulturell geprägten Umwelt ausgeht, ist zu unterscheiden von einer ›objektiv stattfindenden‹ Wirksamkeit, die wir natürlichen Ursachen zuschreiben. Es handelt sich hierbei um ein leibliches Phänomen par excellence, da nur ein Selbst, das leiblich ausgesetzt ist, in seinem Eigensten von Fremdem angerührt werden kann. Das Widerfahrnis ist weder ein subjektiv vollzogener Akt noch ein objektiv festzustellendes Vorkommnis, sondern ein Ereignis, das sich dadurch auszeichnet daß jemand daran beteiligt ist, dies jedoch nicht im Nominativ eines Ich, das als Aktzentrum fungiert, sondern im Dativ oder Akkusativ eines Mir oder Mich, dem etwas zustößt oder die [sic] etwas trifft. Dieses pathische Mich ist also wohl zu unterscheiden von dem reflexiven Mich, das uns bei Mead begegnet. Das betroffene Selbst erfährt sich ursprünglich als eine Art Patient. / Doch dies ist nur die eine Seite. Zur Wirkung kommt das Pathos in einem gegenläufigen Ereignis der Response. Der jeweils Antwortende beginnt selbst, aber beginnt nicht bei sich selbst, sondern mit dem, was ihn affiziert oder an ihn appelliert. Das Erleiden des Patienten geht über in das Antworten des Respondenten.«[10]
Ich möchte sogleich darauf hinweisen, dass sich diese Ereignis-Beschreibung nachhaltig von dem simplen Reiz-Reaktion-Modell des Behaviorismus unterscheidet, aber mit der Auffassung eines atmosphärisch verdichteten Erlebens übereinstimmt, die Gernot Böhme entwickelt hat[11], zeichnet sich dieses Erleben doch ebenfalls dadurch aus, dass es die strikte Trennung oder Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt suspendiert. Wir spüren die Atmosphäre einer Szene, in die wir eintreten, geradezu körperlich, wir erfahren uns auch beim atmosphärisch verdichteten Erleben als ein pathisches Mich, das zu einem reflexiven wird, wenn es der eigenen Affiziertheit gewahr wird. Da zwischen dem Widerfahrnis und dem Response eine Diastase entsteht[12], achtet die orektische Filmanalyse insbesondere auf die Momente in einem Film, in denen das Geschehen für eine kurze Zeitspanne aussetzt, damit sich die Zuschauer ihrer Empfindungen innewerden und zumindest für Augenblicke nicht nur über das Dargestellte, sondern auch darüber nachdenken können, was es mit ihnen macht.[13] Dieses Bemerken der eigenen Affiziertheit zeitigt einen kognitiven Effekt, in dem aufgehoben wird, was ihn emotional grundiert. Aufgehoben sind darin jeweils auch die Wünsche oder Ängste, denen das Dargestellte korrespondiert, das heißt: in der Konjektur des Zuschauers werden nicht einfach nüchtern Informationen, sondern Empfindungen und Vorstellungen, Gefühle und Gedanken, Stimmungen und Ahnungen, Befindlichkeiten und Schlussfolgerungen gemäß individuellen oder kollektiven Bedürfnissen – also orektisch – vermittelt.
Dieser Prozess lässt sich wiederum semiologisch beschreiben, indem man auf das Interpretanten-Modell von Charles Sanders Peirce rekurriert.[14] Man kann dann nämlich den emotional-immediaten Interpretanten der unmittelbaren Reaktion auf einen Impuls von den dynamisch-energetischen Interpretanten abheben, die spontane Empfindungen in Vorstellungen und andere Kognitionen umwandeln und entweder einen logischen Interpretanten hervorbringen – eine bis auf Weiteres befriedigende Deutung –, oder durch neue Impulse in eine rekursive Bewegung getrieben werden, wie dies in der Filmwahrnehmung geschieht. Das Interpretanten-Modell verbindet die allgemeine Irritabilität des Menschen für Eindrücke, die in den Zuständigkeitsbereich der Physiologie gehört, mit dem psychologischen Faktum der Responsivität und der philosophischen Problem der Inferenz: Wie gelangen wir in der Wahrnehmung zu Urteilen oder Schlussfolgerungen, die über das Sichtbare, Hörbare usw. hinausgelangen? Wenn man diese Frage beantworten und dabei dem Umstand Rechnung tragen will, dass die Künste ein jeweils medienspezifisches Wechselspiel von Sinnlichkeit und Verstand, Gemütserregung und (Selbst-)Überredung in Gang setzen, ergeben sich höchst aufschlussreiche Zusammenhänge zwischen dem phänomenologisch angereicherten Interpretanten-Modell der Semiotik und der antiken Affektenlehre. Ich halte mich bei der Erläuterung dieser Zusammenhänge ausschließlich an die einschlägigen Äußerungen von Aristoteles – zum einen, weil er der erste war, der den Affekten einen systematischen Platz in der Rhetorik zugewiesen hat, und zum anderen, weil Aristoteles auch eine Poetik verfasst und darin eine noch heute, selbst für den Film maßgebliche Dramaturgie entworfen hat.
- [10] Waldenfels, Bernhard: Sozialität und Alterität. Modi sozialer Erfahrung. Berlin 2015. S. 81 f.
- [11] vgl. Böhme, Gernot: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik. Berlin 2013. S. 34: »Die Atmosphäre ist die gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen.«
- [12] vgl. Waldenfels, Sozialität und Alterität, S. 83.
- [13] vgl. Bauer, Matthias; Hochscherf, Tobias: Phaneroskopie. Erste Überlegungen zur orektischen Filmanalyse. In: Jahrbuch immersiver Medien 2013: Atmosphäre: Gestimmte Räume und sinnliche Wahrnehmung. Kiel 2013. S. 96—115, hier S. 102.
- [14] vgl. Nöth, Winfried: Handbuch der Semiotik. 2., vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage mit 89 Abbildungen. Stuttgart, Weimar 2000. S. 64 f.