Unter dieser Voraussetzung kann man auf den Film sogar die Unterscheidung anwenden, die Aristoteles im dritten Buch der »Rhetorik« zwischen dem ethischen und dem pathetischen Stil trifft. Der ethische Stil bringt die Gesinnung, der pathetische die Affekte zum Ausdruck.[28] Zu denken ist hier zunächst an die Selbstdarstellung des Redners, der seine Überzeugung oder seine Gemütsverfassung zu erkennen gibt. Man kann die Basisdifferenz von Ethos und Pathos aber auch wirkungsästhetisch wenden und sagen: Der Redestil kann sowohl die Gesinnung als auch das Gemüt der Zuhörer beeinflussen, wobei diese Wirkung in vielen Fällen durch eine Übertragung geschehen kann. Es hat daher Sinn, sowohl von einer perspektivischen als auch von einer emphatischen Mimesis zu reden, also von der Übernahme kognitiver und affektiver Einstellungen – was nach allem, was man inzwischen über die Funktion der Spiegelneuronen weiß, ein Vorgang ist, der sich unwillkürlich anbahnt.[29] Es wäre zweifellos eine eigene Untersuchung wert, diesen Vorgang anhand der Großaufnahme von Gesichtern zu analysieren, denen sich der Zuschauer auf der Leinwand gegenübersieht. Man würde dann ein vertieftes Verständnis für den »Gefühlsakkord« gewinnen, den schon Béla Balázs anhand der physiognomischen und pantomimischen Darstellungskunst einer Asta Nielsen oder anhand des Gish Close-ups beschrieben hat.[30]
Diesem Untersuchungsansatz kann ich hier nicht nachgehen. Ich möchte mich stattdessen einem Beispiel nähern, an dem sich die Relevanz meiner Konjektur zeigen lässt. Ich will es uns dabei allerdings nicht allzu leicht machen, indem ich eine Gerichtsszene oder ein Melodram wähle – Beispiele, bei denen die Rollenteilung von Enthymem und Paradigma ebenso offen zutage liegt wie der pathetische Zuschnitt der Inszenierung. Denn Filme leben ja nicht nur vom dem Wortwechsel der Figuren, der immer schon rhetorisch ist. Sie stellen vielmehr hybride Zeichensysteme mit einer dominant poetischen Funktion dar. Sieht man sich unter diesem Vorbehalt die Rolle der Affekte im Spielfilm an, ist man gut beraten, drei Ebenen der Betrachtung zu unterscheiden. Da sind zunächst (1) die Affekte, die auf der Ebene der dargestellten Handlung ins Spiel kommen, wenn Schauspieler bestimmte Gemütszustände ausdrücken, sei es verbal oder non-verbal. Da sind sodann (2) die Affekte, die der Film – auf welche Weise auch immer – bei den Zuschauern auslöst. Bei diesen wiederum ist zu unterscheiden, ob sie (2a) der eigentliche Zweck der Erregung oder nur (2b) das Mittel sind, um (3) weiterführende kognitive Prozesse in Gang zu setzen. Auf dieser Ebene geht es dann nicht mehr um die Empfindungen als solche, sondern um ihre Umwandlung in Vorstellungen und Gedankenreihen, die einerseits eine je besondere emotionale Färbung aufweisen, andererseits aber zu allgemeinen Urteilen und Schlussfolgerungen führen, weil die erzählte Geschichte als Exempel verstanden werden kann. Die dramaturgisch gesteigerte Erregungskurve der Filmwahrnehmung schließt eine Rücksicht auf die Stimmungsumschwünge ein, die der Zuschauer während der Vorführung durchläuft – zumal dann, wenn ihm der Film inmitten seines Momentums Gelegenheit verschafft, sich der eigenen Befindlichkeit inne zu werden. Die Vorstellung jedenfalls, dass Filme immer nur auf eine Überwältigung durch rasch wechselnde, spektakuläre Bilder und Töne abzielen, die dem Zuschauer keine Zeit lassen, sich zu besinnen oder nachzudenken, ist ebenso abwegig wie die Annahme, alle Aufmerksamkeit konzentriere sich auf den mehr oder weniger turbulenten Handlungsverlauf.
Das entscheidende Datum, von dem man gleichwohl in jedem Fall ausgehen kann, beim Blockbuster-Movie wie beim Arthouse-Film, beim Genre- wie beim Autorenkino, besteht darin, dass dem Zuschauer etwas widerfährt, das er nicht hervorgebracht hat, zu dem er sich jedoch irgendwie verhalten muss. Dabei ist der Aufforderungscharakter des Films paradox: Er zeigt sich in einem Bewegt-Werden bei gleichzeitiger Handlungsblockade, in einem Angerührt-Sein, das gerade deshalb mit Bewusst-Sein einhergeht, weil es von allen praktischen Bezügen abgekoppelt ist und darin der Situation des Zuschauers im Theater gleicht, die zu einer »theoretischen« Einstellung auf das dargestellte Geschehen, den Mythos, führt. So jedenfalls nimmt sich die kulturelle Praxis des Schauspiels als Beispiel gebende Veranschaulichung allgemeiner Empfindungsarten und Handlungsweisen in der aristotelischen »Poetik« aus. Als folgerichtig entwickelter, in sich abgeschlossener Handlungszusammenhang mit Anfang, Mitte und Ende gewährt der Mythos dem Zuschauer genau das, was im »wahren« Leben nur schwer oder gar nicht zu erreichen ist: Einblick, Durchblick, Überblick.[31] Das Theater und a fortioro das »Lichtspieltheater«, das Kino, setzen nicht etwa trotz, sondern wegen der Affekte, die sie mobilisieren, an einem von der Lebenspraxis abgesetzten Ort Erkenntnisse frei, die im Lichte der Lebenserfahrung zu bewerten und dergestalt – als Paradeigmata – auf die Lebenspraxis zurück zu beziehen sind.
- [28] vgl. Aristoteles, Rhetorik, S. 199.
- [29] vgl. Iacoboni, Marco: Woher wir wissen, was andere denken und fühlen. Das Geheimnis der Spiegelneuronen. Aus dem Englischen von Susanne Kuhlmann-Krieg. München 2011.
- [30] vgl. Balázs, Béla: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films. Mit einem Nachwort von Helmut H. Diederichs und zeitgenössischen Rezensionen von Robert Musil, Andor Kraszna-Krausz, Siegfried Kracauer und Erich Kästner. Frankfurt am Main 2001. S. 45 f.
- [31] vgl. Aristoteles, Poetik, S. 81. Was für das Drama gilt, bestätigt der Philosoph hier auch für das Epos: »(…) man muß das Werk von Anfang bis Ende überblicken können.«