Mythen des Alltags
Cornern
Über das Leben an Ecken
»Bitte NICHT wild pinkeln! Behindert NICHT den Verkehr! Bitte seid lieb!« Neben Katzenvermissten-Meldungen und Babysitter-Gesuchen klebt dieser Zettel an einer Straßenecke in Hamburg. Fein säuberlich laminiert, richtet er sich vor allem an diejenigen, die hier zu Hunderten in St. Pauli »cornern«. Von der Ecke zur »Corner« wurde die Kreuzung zwischen »Grüner Jäger« und »Thadenstraße« vor elf Jahren. Der zentrale Kiosk, die Tabak-Börse, musste damals, wegen Sanierungsarbeiten am Gebäude, auf die Grünfläche gegenüber in einen Container ausweichen. Seitdem trifft man sich hier zum kollektiven Herumsitzen und Herumstehen an der Ecke. Wer sich durch die Ansammlung quatschender und qualmender Eckensteher kämpft, gelangt zu ebenjener »Tabak-Börse«, liebevoll auch »Ta-Bö« genannt, die sich inzwischen wieder im alten Gebäude befindet und rund um die Uhr Getränke und Zigaretten bereit stellt. Dort spricht nichts dagegen, ein oder mehr Biere um die Ecke zu bringen.
Eine magische Anziehungskraft scheint von Bushaltestellen, Spielplätzen, Brücken, Treppen oder eben Ecken auszugehen. Schon im Jahr 1943 hat William Foote Whytes das Phänomen in der Fallstudie »The Street Corner Society« eingehend untersucht. Der US-amerikanische Soziologe verbrachte für seine Feldforschung einige Jahre im Bostoner Stadtteil North End und teilte die jüngeren Bewohner in zwei Hauptkategorien ein: Die »corner boys« und die »college boys«.[1] In den 1970er und 1980ern Jahren konnten ähnliche Vorgänge auch in New York beobachtet werden. “The corner was our magic, our music, our politics, […]”[2] beschreiben die Last Poets in einem Song des US-amerikanischen Rappers Common das Leben in der Bronx. Dort trafen sich Breakdancer und Hip-Hopper an den Straßenecken, um gegeneinander anzutreten. Entstanden ist daraus eine Mischung aus Kunst, Kultur und Protestbewegung, auch um der Gewalt rivalisierender Straßengangs etwas entgegenzusetzen.
Heute »cornern« nicht nur die »corner boys«. Inzwischen halten sich auch die privilegierten »college boys« und »college girls« am liebsten unter freiem Himmel auf. Dabei dürfen sie sich bei permanenter Frischluftzufuhr und Boom-Box-Beschallung rebellisch und unangepasst fühlen. Nicht alle sind jedoch glücklich über diese kulturelle Bewegung, die lautstark durch das Nachtleben zieht und eine Spur der Vermüllung hinterlässt. Die Gastronomie beklagt Umsatzeinbußen, Anwohner sind genervt, und Politiker fürchten um den Kiez in seiner bisherigen Form. Aber machen nicht gerade diese scheinbaren Störfaktoren eine Stadt lebendig und reizvoll? Was wäre der Kiez also ohne ein bisschen Schmutz, den Duft der Straßenreinigung, Biergeruch im nebligen Morgendunst, die steife Zwiebel- und Fritteusen-Fett-Brise oder die blass-grünen Schnapsgesichter auf dem Nachhauseweg?
Es bleibt das abzuwarten, ob sich die Gemüter wieder beruhigen, sobald die nächste laue Sommernacht vom »Schietwetter« in Hamburg abgelöst wird, Regenschirme oder Friesennerze das Stadtbild bestimmen und sich abends wieder in die Kneipe um die Ecke statt an die Ecke gesetzt wird.