Mythen des Alltags
Lastenrad
Leiser Transporter mit Muskelkraft und Ökostrom
Wie ein Walhai zwischen Putzerfischen gleitet das üppig beladene »Cargobike« zwischen den anderen Fahrrädern auf dem Radweg dahin. Es wirkt durch seine Größe eher behäbig, biegt dafür überraschend schnell in eine Straße ein, wo es direkt vor dem Eingang einer Kita parkt und drei kleine Kinder aus dem Lastenkorb klettern.– Kein ganz neues Bild, aber immer häufiger zu beobachten: Lastenfahrräder, die das Familienauto ersetzen oder zumindest ergänzen. Bei immerhin 120 kg Zuladung können locker drei Kinder und der Wocheneinkauf verstaut werden. Nicht nur Familien kommen auf den Geschmack, eine Konstanzer Fahrradhändlerin erkennt ein neues Lebensgefühl rund um die »Cargobikes«. Ihre Kunden sind oft junge, umweltbewusste Menschen, die noch nie ein Auto hatten und auch keines wollen. Sie transportieren einfach alles mit den Bikes: Hunde, Bierkästen, Umzugskartons, Zimmerpflanzen, Instrumente, Matratzen — und später vielleicht auch mal Kinder.
Nachdem Lastenräder Ende des 19. Jahrhunderts ihren ersten Hype hatten, gerieten sie durch die zunehmende Motorisierung des Straßenverkehrs beinahe in Vergessenheit. In Dänemark überlebten sie als »Long Johns«[1] und »Christiana-Bikes«[2], in den Niederlanden als »Bakfietsen«. Hier sind sie erst seit den 2000ern wieder im Kommen. Richtig Fahrt aufgenommen hat die neue »Cargobike«-Begeisterung durch die Ausstattung der Lastenräder mit Elektromotor. Eine stufenlos einstellbare Unterstützung bis 25 km/h macht das Fahren von Anfang an sehr leicht und angenehm. Fehlende Ausdauer braucht man so nicht zu fürchten. Selbst wenn der Korb mit dem Liebsten, einem Picknickkorb und zusätzlich dem dicken Hund beladen ist, kann man unbeschwert losbrausen.
Mit einem Lastenrad ist man in der Stadt deutlich unabhängiger und günstiger unterwegs als mit einem Auto. Zudem fällt die nervenraubende Parkplatzsuche weg; geparkt wird einfach genau da, wo man hin will. Der Akku kann an jeder Steckdose geladen werden, vorzugsweise natürlich mit grünem Strom. Das kostet pro Akkuladung etwa 20 Cent, Steuer- und Versicherungskosten fallen keine an.
Nur die Anschaffung eines Cargobikes ist mit rund 8000 Euro ziemlich teuer. Das hindert die Deutschen jedoch nicht daran, immer mehr Transporträder zu kaufen: Laut des Zweirad-Industrie-Verbands (ZIV)[3] sind die Verkaufszahlen von Cargobikes in Deutschland im Jahr 2020 auf über 100000 Stück angestiegen. Die oben erwähnte Fahrradhändlerin kann diesen Trend bestätigen. Durch die »Lockdowns« während der Corona-Pandemie sind offenbar viele Menschen wieder aufs Fahrrad gestiegen, besonders Lastenräder sind beliebt. Sie berichtet von überglücklichen Menschen, die gar nicht glauben können, dass sie jemals freiwillig auf das belebende Fahrradfahr-Gefühl verzichtet haben. Vielleicht ist das die neue Freiheit: Fahrtwind in den Haaren und Ökostrom unterm Hintern.
- [1] »Der Long John ist ein besonderer Typ des Lastenfahrrads. Er wurde in Dänemark vermutlich um 1930 entwickelt. Im Unterschied zu anderen Lastenfahrrädern befindet sich beim Long John zwischen Lenksäule und Vorderrad eine tief liegende Lastenfläche, die mit bis zu 100 kg beladen werden kann.« Quelle: Mobile Welten e.V.. (2021−11−26). Transportrad Long John. URL: https://nds.museum-digital.de/index.php?t=objekt&oges=43170 (Stand: 9.2.2022)
- [2] 1984 in der Freistadt Christiania in Dänemark entwickelt, ursprünglich für den Transport von Kindern. Zwischen den beiden Vorderrädern befindet sich eine robuste Holzkiste. Christiania Bikes Aps, URL: https://www.christianiabikes.com/uk/about-us/our-history/ (Stand: 10.2.2022)
- [3] Zweirad-Industrie-Verband, URL: https://www.ziv-zweirad.de/uploads/media/PM_2021_10.03._Fahrrad-_und_E-Bike_Markt_2020.pdf (Stand: 8.2.2022)