Die gesellschaftliche Verantwortung der Gestalter: Warum die HfG Ulm gegründet wurde
Die HfG wurde nicht gegründet, um ein ästhetisches Defizit zu beheben. Ihren Gründern (Otl Aicher, Inge Scholl und Max Bill) ging es nicht in erster Linie darum, schöne Plakate und Lampen zu gestalten. Sie wollten vielmehr die Gesellschaft gestalten. Genauer gesagt: Sie wollten dazu beitragen, dass nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland eine friedliche, demokratische und freie Gesellschaft entstehen konnte.– Die deutsche Gesellschaft lag 1945 in Trümmern. Die Häuser waren zerstört, die Straßen und Plätze der Städte voller Schutt und Asche. Das Land war von den vier führenden Siegermächten besetzt und aufgeteilt. Die Zerstörung war beinahe total. Sie erstreckte sich nicht nur auf die materielle Umwelt. Die Familien und Freunde beklagten ihre Toten und Vermissten.
Darüber hinaus waren auch die geistigen Grundlagen der Gesellschaft fundamental beschädigt. Die Welt hatte sich durch das Nazi-Regime so grundlegend geändert, dass die Deutschen aus Aichers Sicht nicht nahtlos an die Zeit bis 1933 anknüpfen durften. Er wollte die Katastrophe als Chance nutzen und sämtliche Traditionen und Gewissheiten, welche die deutsche Gesellschaft bis dahin wie selbstverständlich getragen hatten, kritisch hinterfragen. Alle gesellschaftlichen Werte erschienen fragwürdig, weil sie den Menschen nicht die Kraft gegeben hatten, den Nazis zu widerstehen. Diese Chance für einen vollständigen Neuanfang nannte man »Stunde Null«. Otl Aicher war der Ansicht, dass die traditionelle bürgerliche Wertschätzung der »Sonntagskultur« über Bord geworfen gehörte. Er hatte nichts gegen Theater, Oper, Konzerte oder Gemälde, er hatte sogar für ein paar Monate in München Bildhauerei studiert. Aber ihre Überhöhung in einen Fetisch hatte zur Geringschätzung des Alltags geführt. Deshalb waren auch die alltäglichen Dinge gering geachtet, die seit der Industrialisierung in großen Stückzahlen hergestellt werden konnten und dadurch für breite Schichten der Bevölkerung erschwinglich waren.
Feines Porzellanservice für den Festtag mit gestalterischen Mitteln zu veredeln, interessierte Aicher nicht. Er war der Meinung, dass eine freie und demokratische Zivilgesellschaft vielmehr Geschirr für jeden Tag des Jahres benötigte. Nicht nur praktisch und bezahlbar sollte es sein. Vor allem sollte es eine eigenständige Form erhalten, also die Erscheinung von vornehmen Luxuswaren nicht imitieren: weder ihren Stil noch teure Materialien oder kostbare Verarbeitung vortäuschen. Einige Jahre später, 1959, als die HfG schon einige Jahre existierte, entwarf tatsächlich der Student Nick Roericht in seiner Diplomarbeit eines der berühmtesten Produkte der HfG: das stapelbare Geschirr TC 100, das ausschließlich für Kantinen hergestellt wurde. Jahrzehntelang haben Millionen Menschen es zum Beispiel in Jugendherbergen benutzt.
Den gleichen Anspruch richtete Aicher auch an die Gestaltung von Informationen. Wer zum Beispiel einen übersichtlichen Zugfahrplan entwickelte oder ein sachlich aufklärendes Plakat über die Notwendigkeit gesunder Ernährung, ging aus Aichers Sicht einer Beschäftigung nach, die gesellschaftlich relevanter war als künstlerische Malerei. Deshalb hatte er sein Studium an der Münchner Akademie rasch abgebrochen. Er sah keinen Sinn darin, sich den Bildenden Künsten zu widmen, als ob zwischen 1933 und 1945 nichts gewesen wäre. Die Kunst erschien ihm damals sogar verlogen, weil er meinte, dass sich die Künstler dadurch ihrer Verantwortung entzogen, ihre Talente für den Aufbau einer neuen Nachkriegsgesellschaft zu nutzen – eine radikale Ansicht, typisch für Aichers Kompromisslosigkeit.
Ursprünglich, Ende der 1940er Jahre, wollten Inge Scholl und Otl Aicher gemeinsam mit dem Schriftsteller Hans-Werner Richter eine Geschwister-Scholl-Hochschule gründen. Sie sollte das Angebot der Volkshochschule erweitern, vor allem um gesellschaftspolitische Themen. Weil sich Otl Aicher aber für Architektur, Städtebau und das interessierte, was wir heute Design nennen, wurde er auf den Zürcher Architekten, Künstler und Designer Max Bill aufmerksam. Bill wurde rasch ein wichtiger Mitstreiter der Ulmer und brachte Hans Werner Richter innerhalb weniger Monate dazu, sich aus dem Engagement zurückzuziehen. Bill sorgte dafür, dass das inhaltliche Konzept der in Gründung befindlichen Hochschule auf Gestaltungsthemen eingegrenzt wurde: Städtebau und Architektur, visuelle Gestaltung, Produktgestaltung, Information. Die gesellschaftspolitische Ausrichtung verschwand dadurch nicht. Sie blieb als Basis für die Beschäftigung mit Fragen der Gestaltung der Welt bestehen. Welchen Beitrag muß die Gestaltung leisten, damit die Menschen den Versuchungen eines tyrannischen, menschenverachtenden Regimes widerstehen werden? Damit etwas wie die Nazi-Zeit nicht wieder möglich wird? »Nie wieder!« lautete das Leitmotiv der Ulmer.