Die kulturelle Bewältigung der technischen Zivilisation: Welche Aufgabe sich die HfG Ulm vorgenommen hatte
Welche Verantwortung trägt der Gestalter für die Entwicklung und Stärkung einer freien, unabhängigen und kritischen Gesellschaft? In welcher Gesellschaft wollen wir leben, und welchen Beitrag können wir als Gestalter dazu leisten, dass diese Gesellschaft Wirklichkeit wird? Die gesellschaftliche Verantwortung des Gestalters ist die Antriebskraft, die nicht nur zur Gründung der Hochschule für Gestaltung geführt hat. Sie hat auch während ihres Bestehens von 1953 bis 1968 die intellektuelle Grundlage gebildet. Die HfG beruhte erstens auf der Beobachtung, dass die (westliche) Welt seit der Mitte des 19. Jahrhunderts durch den historischen Prozess der Industrialisierung eine technische geworden ist, und zweitens auf der Annahme, dass diese Welt gestaltet werden kann.
Beides sind fundamentale Bestandteile des Gerüsts der Ideen, Werte und Überzeugungen, welche die Moderne hervorgebracht haben. Eine zentrale Folgerung der Moderne ist die Behauptung, jede Aufgabe können aus sich heraus gelöst werden. Probleme stellen sich unter diesem Blickwinkel als Aufgaben dar, die durch Entwickeln gelöst werden können – um im Bild zu bleiben: Probleme sind Verwicklungen, die in ihrem Kern schon ihre Lösung enthalten. Man müsse »nur« bis dorthin vordringen. Dann ergebe sich die Lösung wie von selbst.
Als Ergebnis dieser Konsequenz brachte die Moderne jedoch nur in den seltensten Fällen Orte, Gebäude, Geräte und Dienste mit gesteigerter Qualität hervor, sondern genau die Banalität, die der Moderne schon von Beginn an (spätestens seit der ersten Weltausstellung in London 1851) vorgehalten wird als inhumane Unterwerfung unter das Diktat der Maschinen und der Industrie, ästhetische Verödung und monotone Simplifizierung.
Der Ansatz des Bauhauses unter Walter Gropius bestand darin, diese Herausforderung mit künstlerischen Mitteln zu bewältigen. Die Architektur propagierte er als diejenige Disziplin, die alle Künste zusammenführte. Otl Aicher vertrat eine andere Ansicht: Die technische Zivilisation müsse auf der Grundlage eines neuen Verständnisses von Kultur bewältigt werden. Kultur sei nicht, was nur sonntags angelegt werde wie ein besonderes Kleid und nur wenige Bereiche des Lebens betreffe (insbesondere Lyrik, Theater, Oper, klassische Musik, Malerei, Bildhauerei und Philosophie), sondern umfasse schon längst sämtliche maschinell hergestellten Gegenstände und alltäglichen Handlungen. Die Gestaltung dieser Dinge und Zusammenhänge der Industriegesellschaft müsse deshalb als kulturelle Aufgabe behandelt werden.
Otl Aicher wollte weder an eine irregeleitete »Maschinenästhetik«, noch an romantisch verklärten Historismus anknüpfen (selbst Thomas Mann verzweifelte an der Erkenntnis, dass sehr viel Hitler in Wagner steckt). Die kulturelle Bewältigung der technischen Zivilisation sollte statt dessen auf sachlich begründeter Rationalität beruhen. Jegliche künstlerische Inszenierung oder emotional ergreifende Überwältigung lehnte er radikal ab, denn damit hatten die Bilder von Leni Riefenstahls Propagandafilmen und von Aufmärschen der Nazis im nächtlichen Fackelschein ihre Wirkung erzielt.
An die Stelle von Symbolen und Parolen setzte Aicher das nüchterne, überzeugende Argument. Design sollte eine vernunftbasierte Tätigkeit sein. Es ging dabei nicht um Inspiration und sprudelnde Ideen, sondern um vorurteilfreies und gründliches Untersuchen des Kontexts einer Aufgabe, sachliches Gewichten und Abwägen der Analyseergebnisse, systematisches und interdisziplinäres Hervorbringen von Systemen anstelle von Unikaten. Die Überzeugungskraft der Information war ihm wichtiger als zerstreuende Unterhaltung. Die Verbesserung eines praktischen Nutzens für viele Menschen zog er dem Verfeinern von Gütern für prestigeträchtigen Luxuskonsum vor. Technik war für ihn kein Fetisch (auch wenn Motoren ihn faszinierten), sondern potentiell ein effizientes Instrument für eine demokratische Gesellschaft. Techniker, Wissenschaftler und Ingenieure durften deshalb auch keine Fachidioten sein, die sich nicht für die gesellschaftlichen Zusammenhängen interessierten und nur ihr Spezialwissen abgeschottet anhäuften.
Sobald die Studierenden die Grundlehre bzw. das erste Studienjahr absolviert hatten, beschäftigten sie sich in ihrer Abteilung nach folgendem Muster mit ihrer Aufgabe (typisch waren etwa in der Produktgestaltung: elektrischer Handbohrer, Espressomaschine, Brille, Zeichenmaschine, Diaprojektor, Füllfederhalter). Am Anfang stand eine kritische Analyse der am Markt vorhandenen Dinge. Dann wurden Charakter und Qualitäten des Produkts definiert, um die Funktionen genau bestimmen zu können, die zur Erfüllung dieser Aufgaben notwendig sind. Zugleich gab es Studien der ökonomischen und soziologischen Zusammenhänge, obwohl diese prinzipiell nicht bis zum Ende durchgeführt werden können. Dann wurde die mechanische und konstruktive Struktur untersucht. Nichts, was gegeben war, wurde kritiklos übernommen, sondern es wurden verschiedene Optionen durchgespielt. Am Ende entschieden sich Studierende und Dozent für eine Möglichkeit. Erst danach begann die formal-ästhetische Gestaltung.
So erhielt die HfG ein Profil, das randschärfer war als das aller anderen Ausbildungsstätten für Design. Die HfG stellte sich selbst die Aufgabe, relevante Beiträge dafür zu liefern, dass die technische Zivilisation des 20. Jahrhunderts kulturell bewältigt werden kann. An keinem anderen Ort auf der Welt gab oder gibt es seither diese Fokussierung.