Diese kurze Analyse zeigt rasch, dass der Satz »Die Wahrheit ist das erste Opfer des Krieges« geradezu eine rasend leichtsinnige Metapher darstellt: Wer gibt die Wahrheit als zu Opferndes her, wer besitzt sie als Gut, auf das er verzichten könnte, zugunsten eines Gnaden- oder Gunsterweises einer Entität, die in diesem Satz »Krieg« genannt wird?
Wie ist es nun, wenn das Opfer selbst Subjekt ist? Die meisten Religionen kennen in ihrer archaischen Zeit auch Menschenopfer, das sie allmählich durch nichtmenschliche, aber dennoch blutige Opfer ersetzt haben.[3] Der Religionswissenschaftler Girard hat darauf hingewiesen, dass in der archaischen Religionen und vielen Mythologie das Opfer immer auch schuldig ist – das Opfern geschieht zurecht.[4] Erst die Hochreligionen wie die mosaischen Religionen trennen Opfer von Schuld. Der alttestamentarische Gott bricht den Opfervorgang ab, bei dem Abraham bereit ist, seinen Sohn Isaak zu opfern, weil er die Opferbereitschaft Abrahams prüfen will und weil der Knabe unschuldig sei – man solle ihm daher nichts zuleide tun.[5]
Wir sprechen heute von unschuldigen Opfern – Opfer sind per se unschuldig, die anderen würden dabei ja nur ihrer Strafe entgegen gehen. Der hingerichtete Verbrecher ist kein Opfer in dieser Denkweise. Unschuldige darf man aber nicht opfern, Schuldige kann man nicht opfern.
Dieser subjektivierenden Redeweise würde dem Kriegsgott Ares oder Mars entsprechen, der durch die Landschaft stampft und alles verschlingt. Aber was wäre, wenn die Wahrheit ein sinnvolles Opfer sein sollte, eine Gegenleistung, ein Gnadenerweis? Der Sieg? Oder die nicht so verheerend ausfallende Niederlage? Warum frisst dieser Kriegsgott die Beteiligten – die Kriegsgegner sprechen vom Kanonenfutter, als wenn diese Kriegsmaschinerie Appetit hätte, unendlichen Appetit, wenn der Krieg nicht enden will? Kann denn der Kriegsgott die Wahrheit verschlingen, ist sie sein erstes Futter?
»Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit«, der Satz wird Josef Rudyard Kipling (1865—1936), selbst britischer glühender Imperialist, zugeschrieben, und vermutlich hat er es deskriptiv und nicht normativ gemeint – die Größe des Britischen Empire war ihm vermutlich mehr wert als die Liebe zur Wahrheit. Es gibt ähnliche Aussagen von Arthur Ponsonby, Hiram Johnson oder Samuel Johnson.[6] Der erste unter ihnen, Arthur Ponsonby (1871—1946) verschärfte dieses Thema in eine eher realpolitische Richtung:
»In Kriegszeiten ist das Versäumnis zu lügen eine Nachlässigkeit, das Bezweifeln einer Lüge ein Vergehen und die Erklärung der Wahrheit ein Verbrechen.«[7]
Die Wahrheit über die Gründe und den Verlauf von Kriegen erfahren die Menschen meist erst Jahre später, wenn der Konflikt bereits beigelegt ist und die Geschichte mühevoll aufgearbeitet wird.
Man erkennt wohl schnell, dass die auf dieser Metaphorik aufgebaute Analogie nicht weiterführt – die Analogien, die diese Metapher zu erzeugen vermag, sind schlechte Erklärungen eines Satzes, der dennoch seine wohl schmerzliche phänomenologische Berechtigung hat.
Denn die Wahrheit ist nicht das erste Opfer: Sie stirbt schon lange vorher. Die Unwahrheit beginnt schon vor den eigentlichen Kriegsereignissen und Kampfhandlungen, und zwar mit der sorgfältigen Verschleierung von Kriegsgründen und Motivationen. Dies geschieht mittels Propaganda, die ihre eigenen Sprachspiele entwickelt hat. Dies geschieht durch aufgebauschte Berichte über den angeblichen Gegner, der zum Feind deklariert wird, indem seine Interessenlage als unlauter charakterisiert wird, mit Bedrohungsbehauptung wider besseres Wissen und mit Rechtfertigungen für die Vorbereitungen. Die Wahrheit wird dispensiert, um überhaupt zum – wohl gewünschten – Konflikt zu kommen, weil die Tatsache des Konflikts günstiger als die Möglichkeit der Kooperation erscheint. Entscheidend ist, dass diese Mechanismen auf beiden Seiten funktionieren. So präsentiert Ivan Nagel das »Falschwörterbuch des Irakkonflikts«:
»Jeder Krieg fängt, bevor er anfängt, mit Lügen an. Zwei Arten der Lüge sind zu unterscheiden: Lüge durch Verfälschung der Fakten und Lüge durch Verfälschung der Worte. Mit beiden werden wir seit anderthalb Jahren überfüttert bis zur Übelkeit.«
Und er legt die Grenze zwischen Wahrheit und Lüge schon viel früher:
»Das Wort Krieg wird als erstes verfälscht. Der Aufmarsch von 200000 Soldaten um die Grenzen des Irak heißt nicht ›Kriegsvorbereitung‹, sondern (seit Monaten dulden wir das): ›Drohkulisse‹. Der Zweck ihrer Anwesenheit ist nicht der ›Krieg‹, sondern der ›Weltfrieden‹. Der Irak gefährdet nur die ›Sicherheit‹, nicht die ›Ölwirtschaft‹ der USA und ihrer Bürger. Gegen ihn hat man keinen ›Angriff‹ vor, sondern ›Entwaffnung‹. Entrissen werden ihm dabei die (atomaren, biologischen, chemischen) ›Massenvernichtungswaffen‹ – von der Weltmacht, die sie in den größten Mengen besitzt und Atombombe, Agent Orange, Napalm auch schon verwendet hat.«[8]
- [3] Vollmer (1874), Einleitung.
- [4] Assheuer, Girard (2005).
- [5] Genesis 22, 1—19.
- [6] “When War is declared, truth is the first casualty” (Ponsonby (1928); “The first casualty when war comes I truth” (Hiram Johnson); “Among the calamities of war may be jointly numbered the diminution of the love of truth, by the falsehood which interests dictates and credulity encourages” (Samuel Johnson). In: http://en.wikiquote.org/wiki/Arthur_Ponsonby.
- [7] “In war time, failure to lie is negligence, the doubting of a lie a misdemeanor, the declaration of truth a crime.” In: Ponsonby (1928 / 1930), S. 30.
- [8] Nagel (2003)