4 Ausblick: Friede und Wahrheit
»Frieden machen kann nur, wer friedlich ist.« Dieser Spruch der Friedenbewegungen aller Welt zielt auf das Verhältnis zwischen den Bedingungen eines äußeren politischen oder militärischen Friedens und den individuellen Befindlichkeiten und Zuständen, die man als innerer Friede bezeichnen könnte.
»Ein Friede ist der Leib der Wahrheit«, sagt C. F. von Weizsäcker.[35] Unter Wahrheit versteht Weizsäcker die Wahrnehmung einer Wirklichkeit. »Geschichte, wie wir sie kennen, ist Kampf der Wahrheiten.«[36] Der Friede wird hingegen als Möglichkeit gesehen, ohne existenzgefährdende Konflikte leben und die Wahrheiten suchen zu können. Der Leib ist die Metapher für die Realität des Verhaltens. Der Topos vom Leib der Wahrheit ist jedoch schon alt, er stammt, wenngleich aus einem theologischen Zusammenhang, bereits von Anselm von Canterbury (1033—1109).[37]
Weizsäcker wiederholt später in seinem Buch »Garten des Menschlichen« diesen Topos:
»Auch im Umgang eines Menschen mit sich selbst gibt es Frieden und Unfrieden. Auch hier ist der Friede der Leib einer Wahrheit. Hier sieht man sehr gut den begrenzten Wert eines begrenzten Friedens. Jedoch der Mensch lernt (da)zu, er reift; gewisse Einsichten haben ein ihnen natürliches Lebensalter. Wie Goethe schon sagte: ›Mensch, so du etwas bist, so bleib doch ja nicht stehn; du musst aus einem Licht fort in das andre gehn!‹[38] Dieser Übergang aus einer Einsicht in die andere geschieht selten in Frieden mit sich selbst. Krisen sind daher die übliche Erscheinungsform des Kampfs der Wahrheiten im Individuum. Innerer Friede kann eben sowohl das Glück einer erreichten Einsicht wie die Verdrängung einer beunruhigenden Einsicht sein. Den einen wird man geneigt sein, einen wahren Frieden zu nennen, den anderen einen falschen. Gibt es Kriterien der Wertung?«[39]
Wenn wir im Themenkreis von Technik und Krieg die Frage nach der Wahrheit stellen, dann auch deshalb, weil es als eine Voraussetzung des Vermeidens zukünftiger Kriege angesehen werden kann, die Bedingen der Kriegsentstehung näher zu verstehen. Bei diesen Bedingungen spielt die Technik sicher eine kaum zu unterschätzende Rolle. Ein weiterer wichtiger Faktor ist und bleibt jedoch die psychische Ausstattung des Individuums.
Vielleicht mag es daher als erlaubte Anregung gelten, aus dem Briefwechsel zwischen Albert Einstein und Sigmund Freud, der auf Anregung des Instituts für geistige Zusammenarbeit des Völkerbundes[40] 1932 zustande kam, den folgenden Gedanken wiederzugeben:
»Alles, was Gefühlsbindungen unter den Menschen herstellt, muß dem Krieg entgegenwirken. Diese Bindungen können von zweierlei Art sein. Erstens Beziehungen wie zu einem Liebesobjekt, wenn auch ohne sexuelle Ziele. Die Psychoanalyse braucht sich nicht zu schämen, wenn sie hier von Liebe spricht, denn die Religion sagt dasselbe: Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst. Das ist nun leicht gefordert, aber schwer zu erfüllen. Die andere Art von Gefühlsbindung ist die durch Identifizierung. Alles was bedeutsame Gemeinsamkeiten unter den Menschen herstellt, ruft solche Gemeingefühle, Identifizierungen, hervor. Auf ihnen ruht zum guten Teil der Aufbau der menschlichen Gesellschaft.«[41]
Während die Jugendaustauschprogramme und die Friedenserziehung nach dieser Zeit durchaus ein Thema geworden sind, könnte man sich hingegen als ein künftiges Thema überlegen, ob es statt Kriegstechniken auch Friedenstechnologien geben könnte, eine Technologie, die Gewalt kontrolliert, eindämmt und zu guter letzt verunmöglicht. Ob die fragile Stabilität der gegenseitigen Abschreckung mit der Möglichkeit des totalen Zerstörung aller Lebensgrundlagen eine solche Friedenstechnik war und zum Teil noch ist – der Peacemaker war einmal der Codename für Nuklearwaffen – mag fragwürdig, also des Fragens würdig erscheinen.
Vielleicht ein Fazit: Jede antagonistische Situation lädt mit zunehmender Komplexität zur Preisgabe der Wahrheit bei. Der Einsatz Technik erhöht in der Regel diese Komplexität.
Heraklit sagte: »Der Gegensatz ist der Vater aller Dinge.«[42] Dies war eher ontologisch gemeint – der Widerstreit der Elemente gebiert neues Seiendes: Stoffe, Dinge wie auch organisatorische oder politische Strukturen – und wurde zitatorisch flugs auf soziologische und militärische Betrachtungen übertragen. Ob Heraklit dies ausschließlich so gemeint hat, darf man ebenfalls für fragwürdig halten.
So bleibt der Krieg zumindest ein Vater der Lüge und ein Miterzeuger von Technik.
- [35] Weizsäcker (1977), S. 40.
- [36] ibid. S. 41.
- [37] »Es ist mithin zuerst ein vernunftgemäßer fester Untergrund der Wahrheit aufzuzeigen, das heißt die Notwendigkeit, die beweist, dass Gott zu dem, was wir verkünden, sich erniedrigen musste oder konnte; dann sind, damit gleichsam der Leib der Wahrheit selber mehr erstrahle, jene Billigkeitsgründe wie Bilder dieses Leibes darzustellen.« (Anselm von Canterbury: Cur Deus homo (1956))
- [38] Dieses Zitat stammt jedoch von Angelus Silesius aus dem Cherubinischen Wandersmann;. Silesius (1675), 3. Buch, S. 139, Nr. 232. »Miß dir doch ja nichts zu.«
- [39] Weizsäcker (1977), S. 241.
- [40] Die Vorgängerinstitution der heutigen UNESCO.
- [41] Einstein, Freud (1972): Briefwechsel, S. 67—68.
- [42] pólemoV bedeutet sowohl Krieg als auch Streit und Zwist. Heraklit, Fragment fr. 53, auch fr. 80. Zit. nach Capelle (1963), S. 135.