4 Die vier Stilfaktoren G, I, G, A
Der erste der vier Stilfaktoren, die die Studierenden benennen sollen, ist die Gattung (G). Er versteckt sich bei Cicero in den aufgezählten Redetypen. Schriftlich wird daraus die Textsorte, die mit bestimmten Konventionen und Lesererwartungen[14] verknüpft ist, die man kennen und einlösen muss (oder, in fortgeschrittenen Ausnahmefällen, vielleicht bewusst konterkarieren möchte). Textsortenerfahrung und reflektiertes Textsortenwissen sind Voraussetzung, um diesen Stilfaktor berücksichtigen zu können. Wer Kenntnislücken hinsichtlich der Textsorte bei sich feststellt, sollte sie schließen, bevor er sich daranmacht, einen Text dieser Gattung zu verfassen.
Ein zweiter Stilfaktor, der sich ebenfalls in der Liste der Redetypen verbirgt, ist die Intention (I), die Wirkabsicht, die Funktion, das kommunikative Ziel, der Sinn und Zweck des Textes. Möchte man beraten, loben, anklagen, etwas verteidigen, unterhalten, trösten, tadeln, wissenschaftlich untersuchen, historisch einordnen? Welche Sprechhandlung soll durch den Text ausgeführt werden? Was möchte man bewirken? Warum sitzt man überhaupt am Schreibtisch? Diese Fragen sollte man sich selbst beantworten, bevor man die Finger über die Tastatur erhebt.
Ein weiterer – bei Cicero (in dieser Übersetzung) explizit genannter – Stilfaktor, ist der Gegenstand (G), der Inhalt des Textes, dessen adäquate Darstellung spezifische sprachliche Mittel verlangt. Jene betreffen vor allem die Wortwahl, die Lexik, denn der Gegenstand muss ja in all seinen Facetten benannt werden. Dies setzt z. B. die Verwendung einer fachsprachlichen Terminologie voraus, kann aber auch Auswirkung auf die Grammatik nehmen, etwa in Hinblick auf vorherrschende Zeitformen oder auf den Komplexitätsgrad der Satzgefüge, der dem Relationsgeflecht des Dargestellten gerecht werden muss.
Den letzten Stilfaktor, den Adressatenkreis (A), bei Cicero wiederum mit drei Zielgruppen exemplifiziert, haben wir uns oben im Vergleich mit der mündlichen Gesprächssituation bereits vergegenwärtigt. Für das Schreiben relevant sind dabei nicht unbedingt die tatsächlichen Leser, z. B. die universitären Betreuer, sondern ein Adressatenideal, etwa die Fachgemeinschaft. Bei diesem Stilfaktor kommt es einerseits auf das Vorwissen des Lesepublikums an, nach dem sich entscheidet, was erklärt und was vorausgesetzt werden kann, und andererseits auf dessen Vorlieben, die zu bedienen die Lesemotivation wachhält. In der Sprache des Marketings ausgedrückt: »Der Köder muss dem Fisch gefallen, nicht dem Angler.«[15]
Die vier gemeinsam aufgespürten GIGA-Faktoren[16] werden nun als Gesamtergebnis in tabellarischer Form, d. h. komprimiert und übersichtlich, dargestellt (s. Abb. 3). Zur weiteren Erläuterung werden die Eigenschaften eines Textes benannt, die er durch seine Anpassung an die vier Stilfaktoren erhält. Die Memorierbarkeit der Methode ist durch das Akronym GIGA gewährleistet.
Abbildung 3: Präsentation Gesamtergebnis (Ausschnitt)
- [14] Erwartet werden u. a. »Sprachsgebrauchsmuster in Form von Mehrworteinheiten« (Brommer 2015, S. 127). Diese können inhaltsbezogen sein oder »themenunabhängig gebraucht werden (…), z. B. musterhafte Verwendung grammatischer Konstruktionen« (Brommer 2015, S. 127, vgl. dies. 2019, 3.2). »Die Angemessenheit eines Textes bemisst sich (aus korpuslinguistischer Sicht) am Grad der Übereinstimmung mit dem (…) Typikprofil, also am Grad seiner (textsortenspezifischen) Musterhaftigkeit« (Brommer 2015, S. 128; vgl. dies. 2019, S. 149–150).
- [15] Thoma zit. nach o. V. 1990, S. 56.
- [16] Die hier vorgelegte Kategorisierung mit den Parametern Gattung, Intention, Gegenstand und Adressaten überschneidet sich naturgemäß mit vielen anderen Auslegungen. Lausberg unterscheidet einen inneren Bereich des prepon, der die angemessene gedankliche und sprachliche Behandlung des Gegenstands (≈ Ge.) betrifft, und einen äußeren mit den Faktoren Sprecher (≈ I.), Publikum (≈ A.), Zeitpunkt und Ort (≈ Ga.) (vgl. Lausberg 2008, § 1055–1057). Asmuth findet bei den lateinischen Rhetorikern die Angemessenheitsfaktoren »Sache, Sprecher, Hörer, Zeit, Ort, Redegattung« (Asmuth 1992, Sp. 586), lässt also die Intention beiseite. Kienpointner konstruiert ein Stildreieck der Angemessenheit mit den Dimensionen »Sachliche Adäquatheit (≈ Ge.), Publikumsbezogene Passendheit (≈ A.) und Situationsspezifische Angebrachtheit (≈ I./Ga.)« (Kienpointner 2005, S. 194–195). Kilian, Niehr und Schiewe zählen zu den »Maßstäben der Sprachbewertung (… die) Dimensionen Angemessenheit bezüglich der dargestellten Sache (≈ Ge..), (…) der Kommunikationssituation (≈ Ga.) und (…) des angesprochenen Publikums (≈ A.). Dem Maßstab der Angemessenheit übergeordnet ist die Funktion des jeweiligen Kommunikationsbereichs (≈ I./Ga.)« (Kilian, Niehr, Schiewe 2016, S. 68). In einem Nebensatz, der auf die antiken Rhetoriker Bezug nimmt, ist ihre Kategorisierung aus meiner Sicht sogar noch klarer: »Da Reden, wie jede Art des Sprachgebrauchs, ganz unterschiedliche Anlässe (≈ Ga.) und Adressaten (≈ A.), Inhalte (≈ Ge.) und Intentionen (≈ I.) besitzen …« (Kilian, Niehr, Schiewe 2016, S. 1). Auch Bean und Melzer formulieren vier Aspekte rhetorischer Situationserfassung, die allerdings nicht ganz deckungsgleich sind: »audience (≈ A.), purpose (≈ I.), genre (≈ Ga.), and discourse community« (Bean, Melzer 2021, S. 56), in letzterem Aspekt fließen verschiedene Momente zusammen. Rutherford u. a. zählen »das Publikum (≈ A.), die Umstände (≈ I. u. a.), das Thema (≈ Ge.)« (Rutherford u. a. 1992, Sp. 432) auf und nennen weiter unten auch die Gattungen (Ga.). Sanders nennt der Sache nach alle vier Faktoren und ergänzt »die Kommunikationssituation als direkten Bezugsrahmen (der mündlichen Kommunikation und) zeitstilistische Sprachtendenzen sowie traditionell-historische Konventionen« (Sanders 2009, S. 217).