5 Sofortige Anwendung
In spielerischer Form wird die GIGA-Adaptionsmethode nun in einer Gruppenübung ausprobiert. Dazu werden Textbeispiele per Lotterie an die Gruppen verteilt, für die mithilfe der vier Stilfaktoren eine Stilempfehlung auszusprechen ist. Wie sind ein Songtext, eine Gebrauchsanleitung oder die Festrede für die Studien-Abschlussfeier zu formulieren?
Abbildung 4: Arbeitsblatt zur Gruppenübung
Durch das Ausfüllen eines Arbeitsblattes (s. Abb. 4) werden Stilvorgaben möglich, die in ihrer Nuanciertheit und Adäquatheit manche der Teilnehmenden vielleicht selbst überraschen. Die mündliche Fähigkeit zur Situationsanpassung hat sich wie von Zauberhand auf den schriftlichen Ausdruck übertragen, die Adaption an die Schreibsituation ist geglückt.
6 Ertrag: Ein stilistischer Qualitätssprung
Ziel der vorgestellten Lehreinheit ist es, gerade bei wenig schreibfreudigen Studierenden einen neuen Glauben an die eigenen Fähigkeiten zu wecken, indem mündliche Kapazitäten wahrgenommen und schreibend umgesetzt werden. Die an den Schluss gestellte Gruppenübung ermöglicht den Teilnehmenden eine überraschend präzise Stilempfehlung und beweist den schnellen Erfolg der Methode.
Die vier Stilfaktoren, die mittels einer Quellenanalyse aufzudecken waren, erweisen sich also als hilfreich für die schnelle Ermittlung des passenden Stilregisters. Ein stilistischer Sprung nach oben wirkt realistisch und die gewohnheitsmäßige Anwendung der Adaptionsmethode bei allen Arten von Schreibanlässen vielversprechend. Das Stilprinzip Angemessenheit ist in seiner Relativität und Skalierbarkeit erfasst. Musterhaftes, zweckdienliches, sachgerechtes und zielgruppenorientiertes Schreiben zeichnet sich − bei manchen Teilnehmenden vielleicht erstmalig – als Zielvorstellung für die eigene Textproduktion am Horizont ab.
Der Erfolg und die Nachhaltigkeit dieser Unterrichtseinheit ist in Evaluationen bestätigt worden. Viele Studierende schätzen das einprägsame Akronym und die Übertragbarkeit der Methode auf alltägliche Schreibanlässe. Die Unterrichtseinheit zeigt, wie die römische Rhetoriktradition mit dem aptum als zeitlos gültiger virtus elocutionis für eine Klientel erschlossen werden kann, die sich oft wenig für Schreibaufgaben begeistert und den Umgang mit antiken Quellen aus dem Fachstudium nicht gewohnt ist. Studierende aller Fächer sind jedoch empfänglich für eine einfach erlernbare Methode zur Optimierung der eigenen Fähigkeiten, deren Anwendungsnutzen klar erkennbar ist und die sofort erprobt werden kann. Der Transfer antiker Rhetorikquellen in einen modernen, aktivierenden Hochschulschreibunterricht kann also selbst im Fall einer dezidiert schreibfernen Klientel für diese gewinnbringend sein.
7 Literatur
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