Ernst Bloch schreibt im »Prinzip Hoffnung« wohlwollend von »den sternenhaft-utopischen Kolportagen bei Laßwitz«[18]. Er führt Laßwitz’ Roman mit denen von Jules Verne an und befindet, sie seien »nicht nur angenehm, sondern nützlich zu lesen. Ist bisweilen Zukunft des menschlichen Könnens, vorgegeben und dargestellt, als wäre sie schon jetzt.«[19] »Auf zwei Planeten« nennt Bloch eine »Kolumbusgeschichte von der anderen Seite«[20], in der Marsbewohner »die Gravitation nach Belieben aufheben«[21], was so nicht ganz richtig ist, Laßwitz’ Martier heben die Gravitation stenggenommen nicht auf, sondern wissen sie zu nutzen und umzumünzen. Und Laßwitz’ »Kolportagen« folgen denen des Jules Verne auch nicht nach, sondern erschienen annähernd zeitgleich.
Von verschiedenen Autoren[22] wird behauptet, Jorge Luis Borges sei zu seiner 1941 veröffentlichten »Bibliothek von Babel« inspiriert worden durch Kurd Laßwitz’ Erzählung »Die Universalbibliothek«, die 1904 erschienen war. In beiden Erzählungen geht es, vereinfacht dargestellt, darum, dass man, ließe man aus allen möglichen Kombinationen von Buchstaben des Alphabets eine Bibliothek entstehen, am Ende alle überhaupt möglichen Bücher generiert hätte. Borges gibt in seiner Erzählung[23] keinen Hinweis auf eine Inspiration durch Laßwitz’ Erzählung, auch im Kommentar zur deutschen Ausgabe ist kein entsprechenden Vermerk zu finden[24].
Als Laßwitz »Auf zwei Planeten« schrieb, hatte der Mars bereits die Phantasie verschiedener Autoren geweckt, zum Beispiel war Carl Ignaz Geiger »Reise eines Erdbewohners in den Mars« bereits 1790 und Percy Gregs »Across the Zodiac« 1880 erschienen. Gert Ueding umreißt die Lage: »Kräftige und literarisch höchst folgenreiche Nahrung erhalten die Marsphantasien durch wissenschaftliche Entdeckungen. 1877 erweist sich dafür als ein fruchtbares Datum. Der amerikanische Astronom Hall weist die Existenz der von Kepler nur errechneten beiden Mars-Monde nach, und sein italienischer Kollege Schiaparelli deutet die langgezogenen geraden Linien in seinem teleskopischen Mars-Bild als Kanäle. Es lag nahe, sie als technisches Wunderwerk einer weit fortgeschrittenen Zivilisation zu sehen, als riesiges Geflecht von Kanälen, mit denen die Bewohner die Wasserversorgung ihres Planeten sicherten. Dieses Motiv der wissenschaftlichen und technischen Überlegenheit, verbunden mit dem älteren Trieb, dem Menschen einen Spiegel vorzuhalten, der ihr eigenes greuliches Abbild oder das Wunschbild ihres Fortschritts zur Vollkommenheit zeigt, regieren seither die literarischen Marsphantasien; deren Zahl ist kaum noch zu überblicken, und in der Regel beschränken sie sich auf Schaumschlägerei aus den vertrauten Ingredienzen.«[25] Doch in der Marsliteratur sind laut Ueding eben nicht nur Plattheiten zu finden, sondern auch »große bedeutende Ausnahmen. Den Anfang macht Kurd Laßwitz mit seinem 1897 erschienenen Roman ›Auf zwei Planeten‹, drei Jahrzehnte ein Bestseller, dann verschollen, weil seine demokratische und pazifistische Botschaft verfemt wurde […]. Auf fast tausend Seiten entfaltet sich ein hinreißender Abenteuer- und Zukunftsroman zwischen Kolportage und Bildungsgeschichte der Menschheit, in dem Aufklärung, wissenschaftlicher Fortschrittsglaube und kultureller Pessimismus eine kuriose Mischung abgeben. Denn die Marsianer, die sich selber Nume nennen und ihren Planeten Nu, haben sich längst schon mit den Erdbewohnern vermischt, wollen sie aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit herausführen, dafür aber ihre Energievorräte ausbeuten. Nachdem sie die Herrschaft über Europa gewonnen und seine Nationen befriedet haben, kommt es beinah zum weltweiten kriegerischen Konflikt, doch siegen auch diesmal Vernunft, sittliche Überlegenheit und die Kraft pazifistischer Überzeugung – dank der Selbstaufopferung Ells, der Wissenschaftler ist, unerkannt auf Erden lebender Sohn eines Marsianers und die Messiasfigur des Romans: ›Das Andenken dieses Edlen ist unvergeßlich‹, resümiert der Protagonist Saltner, der die schöne La geheiratet hat. ›Er war der Führer auf dem Wege, den die Welt nun wandeln kann zu Freiheit und Frieden.‹«[26] Uedings Zusammenfassung ist sehr treffend, hat indes den Nachteil aller Zusammenfassungen, auch der folgenden, dass sie Pathos verdichten und Gehalt schleifen … »Auf zwei Planeten« wirkt, wenn man die Entstehungszeit außer Acht lässt, in der einen oder anderen Passage pathetisch, stilistisch manchmal etwas betulich und hat aus heutiger Sicht Längen, gleichwohl schmälert das nicht die Faszination, die dieser Roman ausübt.
3 Zur Handlung des Romans
Auf dem Mars gibt es den Menschen äußerlich sehr ähnliche Wesen, sie sind den Menschen des ausgehenden 19. Jahrhunderts aber kulturell und technisch unendlich weit voraus. Die »Martier«, die »zum Mars Gehörigen«, nennt der »Lateiner« Laßwitz die Marsmenschen, die wir heute »Marsianer« nennen würden. »Nume«[27], Vernunftwesen, nennen sie sich selbst nach ihrem Planeten »Nu«. Sie haben eine demokratisch-liberale und friedvolle Gesellschaft etabliert und widmen sich der Wissenschaft und der Kunst. Ihre technische Hochkultur hat die alles entscheidende Frage eine hochtechnisierten Gesellschaft, die Frage nach der Energie, schon längst gelöst: Man schöpft intensiv die Sonnenenergie ab. Zudem weiß man die Energie, die in der Gravitation liegt, umzumünzen und zu nutzen, zum Beispiel für die Raumfahrt. So haben die Martier einige Zeit, bevor Laßwitz seine Geschichte beginnen lässt, Raumschiffe zur Erde gesandt, die an den Polen landen konnten. Bei einer dieser Reisen hatte es ein Unglück gegeben, eines der Besatzungsmitglieder namens »All« konnte deshalb nicht mit zum Mars zurückgenommen werden, überlebte aber – er konnte sich in bis in die Zivilisation der Menschen retten und gelangte schließlich nach Europa. All lebte unerkannt unter den Menschen, wurde vermögend, heiratete eine Deutsche und wurde der Vater von »Ell«. Seinem Sohn bringt er die Sprache der Martier bei und sorgt für Friedrich Ells umfassende Bildung, Friedrich wird Astronom und kann sich als reicher Privatmann eine eigene Sternwarte leisten. Ell fällt im Laufe des Romans die entscheidende Mittlerrolle zwischen den Kulturen zu.
Diese Rolle nimmt zu Beginn des Romans ihren Ausgangspunkt in einer Expedition zum Nordpol, die Ell finanziert und ausrüstet. Die Forscher Hugo Torm, Josef Saltner und Karl Grunthe fliegen per Ballon dorthin. Als Laßwitz seinen Roman schrieb, gab es Bestrebungen, den Pol zu erreichen, tatsächlich auch per Ballon, doch zu seinen Lebzeiten gelang das niemandem. Torm, Saltner und Grunthe entdecken auf ihrem Ballonflug, dass schon vor ihnen jemand den Pol erreicht hat, offenbar Wesen einer hochstehenden Kultur, die eine künstliche Insel am Nordpol errichtet haben. Bevor die Forscher diese erstaunliche Entdeckung richtig verarbeiten können, gerät ihr Ballon in Turbulenzen und wird von einem unerklärlichen Sog nach oben gerissen. Ein Raumschiff der Martier, die die Insel errichtet haben, ist gerade auf dem Weg zur Raumstation, das verursacht den Sog. Der Ballon der drei Forscher stürzt ab, zwei von ihnen, Grunthe und Saltner werden von den Martiern gerettet und in ihrer Polstation versorgt. Torm hat, wie später klar wird, ebenfalls überlebt, Inuit nehmen ihn auf, und er schlägt sich in einer Odyssee zurück in die Heimat.
- [18] Bloch, Ernst. Das Prinzip Hoffnung. Zweiter Band. Frankfurt am Main 1979(6). S. 549.
- [19] a. a. O., 734.
- [20] a. a. O., S. 881.
- [21] a. a. O., S. 882.
- [22] So auch Rottensteiner in einem Aufsatz in der »Kollektion Laßwitz«: Rottensteiner, a. a. O., S. 151.
- [23] Borges, Jorge Luis: Die Bibliothek von Babel. In: ders: Gesammelte Werke. Band 5: Der Erzählungen erster Teil. München, Wien 2000. S. 151—160.
- [24] a. a. O., S. 410.
- [25] Ueding, Gert: Abenteuer im Wirklichen oder die Gegenwart unserer Klassiker. Stuttgart 2007. S. 63.
- [26] a. a. O., S. 63 f.
- [27] Als Kant-Forscher dürfte Laßwitz damit auf den Begriff »Noumenon« im Werk Immanuel Kants anspielen.