5 Kant als Utopie
In Laßwitz’ Roman ist die Technik, um eine technische Metapher zu benutzen, »Motor« der Kultur und wird selbst zur Utopie. So stark Laßwitz dieses Motiv auch erzählt, so unterliegt er nicht einer blindwütigen Technikgläubigkeit, er kritisiert in seinem Roman eben auch den missbräuchlichen Umgang mit Technik, also einen, der sich gegen die Kultur, gegen humanistische und pazifistische Werte wendet. Laßwitz’ Fortschrittshoffnungen liegen darin, dass eine hochentwickelte Technik und ihr vernünftiger Gebrauch uns die Freiheit verschafft, Demokratie und Kultur weiterzuentwickeln, denn dass verschafft nicht nur ein gutes Leben, sondern auch eines, das ethisch ist und somit dem Frieden dient.
Die technischen und wissenschaftlichen Hochrechnungen, die Laßwitz in diesem Roman und auch in verschiedenen Erzählungen vornimmt, sind faszinierend, insbesondere dadurch, dass er vieles vorhergesehen hat, womit wir inzwischen die Welt gestalten. Zum Teil haben diese Darstellungen einen spielerischen Selbstzweck, der dem Naturwissenschaftler Laßwitz Freude bereitet und oft auch amüsiert haben dürfte. Dem Philosophen Laßwitz waren diese Darstellungen aber nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck, er setzte die technischen Darstellungen als ein Mittel seiner rhetorischen Strategien ein. Die Wirkungsabsichten zielen auf Vernunft, Herzensbildung und Aufklärung, auf eine bessere Welt, in der Technik, Wissenschaft und Fortschritt dem Menschen dabei helfen, gute politische, demokratische und friedvolle Rahmenbedingungen zu schaffen. Im Grunde dekliniert er in seinen Erzählwerken immer wieder durch, was er von Kant adaptiert hat.
Friedrich Ell verkörpert in »Auf zwei Planeten« diese kantischen Ideen. Immanuel Kant wird gemeinhin nicht als Utopist angesehen, aber vielleicht wäre das kein Fehler bei einem Philosophen, der uns mit seiner Schrift »Zum ewigen Frieden« die wohl radikalste Utopie vorgelegt hat, die sich vorstellen lässt: Die Menschen leben dauerhaft in Frieden miteinander.
Laßwitz setzte seine Hoffnungen in die ethische und technische Weiterentwicklung der Menschheit. 110 Jahre nach Laßwitz’ Tod sind wir zwei Weltkriege und viele Dutzend bewaffnete Konflikte weiter, vermeinen die Atomkraft – »im Rahmen unserer Möglichkeiten und des Möglichen« – zu beherrschen, umspannen mit einem Datennetz den Globus und jagen um ihn Informationen in Echtzeit, wir haben uns sogar ins All aufgemacht. Und teilen mit manchen von Laßwitz’ Martiern die Neigung, ob vieler technischer Weiterentwicklungen zu übersehen, dass unsere sittliche Entwicklung damit nicht zwingend Schritt zu halten vermag. Aber dies ist kein utopischer, sondern ein dystopischer Gedanke …
Dieser Essay wurde erstmals veröffentlicht in »Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch«, Band 39 (November 2020): »Rhetorik und Utopie«, herausgegeben von Francesca Vidal.