Während Ziel der Rhetorik die Überzeugung ist, könnte man als Ziel der Künste die Wirkung auf den Betrachter definieren. Die Redner und die Künstler stellen ihr Wissen in den Dienst dieser persuasiven Operation und sind fähig, ihr Lehrsystem ebenso wie ihr Erfahrungswissen an Schüler weiterzugeben. Bei diesen Überlegungen nimmt die moderne visuelle Kommunikation eine Art Mittelposition zwischen Kunst und Rhetorik ein, weil ihre spezifische Leistung ja nicht nur ein rein ästhetisches Erlebnis ist, sondern auch die Persuasion im rhetorischen Sinn. Sie teilt also ihr ergon in größerem Maße mit der Rhetorik als die sogenannte bildende Kunst.
Da das Postulat der Nützlichkeit schon den vorplatonischen Techne-Begriff prägt, dürfen wir folgern, dass die eikonopoietike, also »bildherstellende Kunst«, analog zur Rhetorik immer schon persuasiv verfährt.[9] Eine klassische Bildrhetorik muss, so stelle ich, vielleicht überspitzt, in den Raum, nicht erst erfunden werden – wir müssen sie nur aufdecken.
Die produktionstheoretische Leitfrage »Wie stelle ich etwas so her, dass es eine bestimmte Wirkung erzielt?« wirkt sich nicht nur auf die Gestalt des Produkts aus, sondern es ist schon im ersten Planungsstadium in ein »Setting« aus wirkungsintentionalem Handeln und erwartungsvollem Rezipienten eingebunden. Erst dann, wenn beim Rezipienten eine Persuasion eintritt, erfüllt das Werk seine Bestimmung. Welchen Charakter die Persuasion hat, hängt von der spezifischen Techne ab: Der Schmied kann den Brustpanzer aus wertvollen Materialien fertigen und ihn stabil verfugen – ein »guter / schöner Panzer«, ein thorax kalon, ist er aber erst, so hören wir in Xenophons Memorabilien des Sokrates[10], wenn er dem Auftraggeber perfekt passt. Das ästhetische Erlebnis des kalon hat aber nichts zu tun mit der Maxime der Schönheit, die uns im emphatischen Kunstbegriff des 18. Jahrhunderts begegnet. Ästhetisches Erlebnis heißt in der griechischen Klassik die unmittelbare Evidenzerfahrung eines »ja, genau richtig so«, wie der Panzerträger es am eigenen Körper spürt.
In Malerei und Plastik ist die Frage, was denn das pithanon, das Persuasive sei, nicht so leicht zu beantworten. Im selben Werk des Xenophon müssen der Maler Parrhasios und der Bildhauer Kleiton sich erst den Fragen des Sokrates stellen, bis sie selbst formulieren können, was die Betrachter für ihre Kunst einnimmt.[11] Es spielen, so die Einsicht der Techniten, in Bildern und Statuen mehrere Faktoren zusammen, wie die Lesbarkeit der Grundhaltungen, die richtige Verwendung der Farben, damit ein Werk seine persuasive Dynamis entfaltet. Den Ausschlag gibt der Faktor des Emotionalen: Nur, wenn die Gefühle oder die körperlichen Anstrengungen der Dargestellten dem Betrachter vor Augen geführt werden, kann das Werk ihn zur Persuasion führen. Es muss also ein Moment der Empathie mit den Protagonisten ins Spiel kommen, ein Mitfühlen mit einem gemalten Helden oder ein Nachvollziehen eines plastisch gebildeten Bewegungsablaufs.
Es stellt sich also die Frage, auf welche Weise die Überzeugungsmittel, auf die Aristoteles sein Rhetorik-Lehrbuch gründet – Ethos, Pathos und Logos – im Kunstwerk greifen. Aber bevor wir diese Frage weiterverfolgen, möchte ich auf die sophistische Techne-Theorie zurückkommen, indem ich die Produktionsstadien von Reden und Bildern miteinander vergleiche. Die Analogien sind offensichtlich. Unterschiede ergeben sich lediglich aus den medialen Bedingtheiten.
1. Inventio: dass Rede und Bild vor dem Einsatz der technischen Mittel einen Prozess der Themenfindung durchlaufen müssen, ist klar. In dieser Planungsphase wird der Herstellungsablauf gedanklich bereits vorweggenommen, soll doch schon die Grundidee das »Setting« des fertigen Produkts, sei es Bild oder Rede, berücksichtigen.
2. Dispositio: Während die Gliederung der Rede in ihre Teile an zweiter Stelle erfolgt, muss sich der Künstler, bevor er die Bildgegenstände verteilen kann, erst für das Speichermedium seines Bildes entscheiden. Diese unverzichtbare Materialselektion wäre analog zum rhetorischen Produktionsstadium der Memoria zu sehen.
3. Der Elocutio der Rede, also ihrer sprachlichen Ausgestaltung, entspricht in den Künsten die technische Ausarbeitung in Stein, Ton, Farbe, dort Elaboratio genannt.
4. Die Memoria, das Speichern der Rede im Gedächtnis oder im Manuskript, entscheidet darüber, ob sie ein einmaliges Ereignis bleibt oder ob sie wieder reproduziert werden kann. Analog kann man in den Künsten zwischen Unikaten und seriell gefertigten Werken, z. B. Reproduktionen aus einer Gips- oder Tonform, unterscheiden.
5. Actio: Während die freie Rede ein unwiederholbares Ereignis ist und die Actio somit eine einmalige persuasive Handlung, so ist die Präsentation eines künstlerischen Werkes meist auf längere Dauer angelegt. Dennoch kann man, da der Künstler sein Schaffen ja von der ersten Ideenfindung an auf eine ganz bestimmte Aufstellungssituation ausrichtet, schließen, dass dem Bild eine ideelle Actio inhärent ist. In verändertem Kontext kann es aber unter Umständen Wirkungen entfalten, die sein Autor niemals intendiert hat.
- [9] Diese These steht allerdings nicht mit der bisherigen communis opinio der Altertums- und Kunstwissenschaft im Einklang, derzufolge rhetorische Komponenten des Bildes, wenn überhaupt, erst im Hellenismus denkbar wären. So etwa Pollitt (1974) 60 ff.
- [10] Xenophon, Memorabilien 3. 10. 10—12.
- [11] Memorabilien 3. 10. 1—8.