Es ist nicht leicht zu erfassen, in welchem Sinne Evidentia Realität erzeugt oder sichtbar macht. Denn die Versprachlichung eines Ereignisses in der Rede – oder die Verbildlichung in der visuellen Rhetorik – ist doch zunächst einmal ein Mittel, um Distanz zur Realität zu schaffen: Sprachliche und bildliche Darstellung bedeutet ja gerade, dass Realität nicht stattfindet, sondern eben beschrieben und abgebildet wird. Aus Sicht der visuellen Rhetorik ist es jedoch spannend zu fragen, mit welchen formalen Mitteln Realitätsnähe suggeriert wird. Doch kann dies erst in einem zweiten Schritt geschehen, wenn klar ist, dass Realität nicht stattfindet, sondern verhandelt wird. Dann erst können wir untersuchen, in welchem Sinn ein dargestellter Gegenstand »realer« zu Tage tritt, wie etwa bei einem Trompe-l’Œil oder, weniger real, wie etwa in einer Skizze. Oder ist vielleicht gerade die Skizze in der Lage, auf ihre Art und Weise Unmittelbarkeit zu erzeugen? Eine weitere Frage wäre auch: Gilt immer »je realitätsnaher, desto affektstärker«? Man kann sich ja auch vorstellen, dass abstrahierte, gezeichnete oder karikierte Darstellungsweisen auf ihre Art emotionaler wirken als »realistische«, obschon (oder gerade weil) eine optisch wahrnehmbare Distanz zur dargestellten Wirklichkeit geschaffen wird.
3 Geht es bei der Evidentia immer um Bildlichkeit? Oder umgekehrt: Geht es bei Bildlichkeit immer schon um Evidentia?
Im Zusammenhang mit der Evidentia genannte Figuren wie die Illustratio scheinen sich unmittelbar auf deren Bildhaftigkeit zu beziehen, und auch Zuschreibungen wie »Veranschaulichung«, »Vor-Augen-Führen« oder »Sehen über Worte« suggerieren die Nähe zum Visuellen. Quintilian spricht davon, dass man das Gesagte so gestalten soll, dass es der Zuhörer eher zu sehen als zu hören glaubt, von einer »bildhaften Gegenwärtigkeit« oder von einem »sich selbst zur Schau Stellen« des Dargestellten (Inst. Orat. XI 2, 41; VIII 3, 61). Möchte man den Begriff der Evidentia von der sprachlichen auf die visuelle Rhetorik übertragen, entsteht das Problem, dass ein solches Verständnis von Evidentia im Grund jede Form von Bildhaftigkeit oder visueller Ausformung bereits als Ausdruck von Evidentia anerkennen würde. Innerhalb der visuellen Rhetorik müsste also unterschiedslos von Evidentia gesprochen werden. Somit würde der Begriff aber entleert und nutzlos. Sinnvoller erscheint es deshalb, nach einem weniger bildzentrierten Begriff zu suchen, der gewisse Verfahren der visuellen Darstellung als evident anerkennt, während er anderen die Evidentia abspricht – oder zumindest in geringerem Mass zuspricht.
Evidentia könnte als eine Art Übertragungsleistung verstanden werden, bei der im Fall der Rede Wörter dazu genutzt werden, verschiedene Formen der Sinneserfahrung, des Sehens, Riechens, Hörens hervorzubringen. Denn Lebendigkeit betrifft all unsere Sinne. Das Bildhafte wäre dann weniger in der Form der Rede selbst zu suchen als in der Wirkung, die im Hörer evoziert werden soll. Vielleicht ist die Idee des Vor-Augen-Stellens also eher der Dominanz des Sehsinns zu verdanken als dem Bildcharakter der Rede selbst. Übertragen auf die visuelle Rhetorik ginge es dann auch hier nicht primär um die Bildlichkeit an sich, sondern um das Evozieren von Lebhaftigkeit im Ausdruck, vielleicht auch hier verstanden als sinnliche Übertragungsleistungen, nun vom Visuellen ins Akustische, Olfaktorische, Haptische: ein Blumenbild, das so intensiv wirkt, dass wir den Duft zu riechen vermeinen, die Fotografie einer Stadt, bei deren Anblick wir das Rauschen des Verkehrs hören und den eisigen Wind im Gesicht spüren oder ein grafisches Jazzplakat, das die Musik in uns erklingen lässt. Zu diesen Fähigkeiten gehört selbstverständlich auch das visuelle »Vor-Augen-Führen« des Gegenstands, aber eben nicht nur. In gewissem Sinn geht es bei der Evidentia also immer um Bildlichkeit, aber Bildlichkeit allein ist noch lange nicht alles, was Evidentia ausmacht.
Literatur
- Cicero, Marcus Tullius: De oratore. Über den Redner. Düsseldorf 2007.
- Quintilianus, Marcus Fabius: Institutionis oratoriae libri XII. Ausbildung des Redners – zwölf Bücher. Darmstadt 1995.