Buchbesprechung
“Drowning in Information While Starving for Wisdom”
Julia Watson über traditionelles, ökologisches Wissen
Wie können wir in Symbiose mit der Natur leben? Julia Watson, eine australische Designerin, Umweltaktivistin und Harvard-Professorin, versucht in ihrem Buch »Lo-TEK. Design by Radical Indigenism« eine Antwort zu geben, die auf indigene Philosophie und traditionelle Infrastrukturen gründet. Ihr Ziel ist, durch die Neubeleuchtung dieses Wissens eine ganze Designbewegung zu inspirieren.
Eine moderne Lösung für den negativen Einfluss des Menschen auf die Umwelt werde, so Watson, zumeist in technischen Methoden gesehen. Diese würden oft nicht mit der Natur, sondern gegen sie arbeiten. »Lo-TEK«(Traditional Ecological Knowledge) stellt die Aussage in den Vordergrund, dass ganzheitliche Strukturen benötigt werden, in denen Biodiversität einen elementaren Grundstein bildet. Als Beleg hierfür werden Jahrtausende alte Praktiken aus unterschiedlichen, schwindenden Kulturen genommen, in denen komplexe Ökosysteme in Kreisläufen funktionieren - ursprünglich, effizient, innovativ und sozial zugleich. Beispiele aus achtzehn Ländern von Südamerika bis Südostasien beleuchten detailreich nachhaltige, naturnahe Technologien. Lebende Brücken im nordindischen Hochland oder schwimmende Dörfer in Peru zeigen radikal andere Herangehensweisen, die laut Watson weder primitiv sind, noch im Schatten moderner Wissenschaft stehen sollten.
Thematisch ist das Buch aufgeteilt in die vier Kapitel »Forests«, »Mountains«, »Deserts« und »Wetlands«. In seinem Vorwort betont der Anthropologe und Autor Wade Davis die Naturverbundenheit indigener Kulturen. »For the people of the Andes, the earth is alive« (S. 12), und sie werde liebevoll »Pachamama« (dt.: Mutter Erde) genannt. »Lo-TEK« zeige, so Davis, dass wir die Möglichkeit haben, unser Verhältnis zu den natürlichen und von uns erbauten Lebensräumen neu zu denken. Er ruft auf zu »a new architecture of the heart, informed by beauty and pure design, with materials as simple as the sun, that yield new possibilities. (…) they will inspire a totally new dream of the Earth.« (S. 15)
In der darauffolgenden Einleitung werden die Grundthesen und -begriffe des Buches genau formuliert. Dabei wird auch die Wahl des Titels begründet mit der lateinischen Wortherkunft von radikal, das auf »Wurzel« zurückgeht. Denn das indigene Wissen sei laut der australischen Umweltaktivistin Julia Watson tief in uns allen verwurzelt und solle uns die Ursprünge von technischer Innovation überdenken lassen. High-tech kritisiert sie aufgrund des »one-size-fits-all approach« (S.20) als destruktiv und als Gegensatz zu natürlicher Diversität. Außerdem betont Watson, dass »Lo-TEK« keinesfalls mit dem Begriff »Lo-tech« (verkürzt von »Low-tech«) verwechselt werden dürfe, denn Ersteres »is sophisticated and designed to work with complex ecosystems« (S. 21). Anhand des »Knowledge-Practice-Belief-Complex« erhält der Leser einen Überblick der vielschichtigen Verflechtung aller Instanzen, die für Harmonie zwischen Mensch und Natur wichtig seien. Die Einleitung abschließend, plädiert Watson angesichts der aktuellen Weltsituation noch einmal eindringlich für die Relevanz traditioneller Methoden. Sie bezeichnet indigene Völker als »unrecognized ecological innovators of the planet« (S. 26), deren Wissen zu Unrecht als Mythus abgestempelt werde. Nach der australischen Designerin brauche es einen globalen Wandel. Großflächige, systemische Änderungen müssten das Individuum mit dem Ökosystem und Spiritualität mit der Wissenschaft verbinden: “Remember to remember.” (S. 26)
Die Beispiele im Hauptteil werden bis ins Detail mit viel Bildmaterial und architekturplanartigen Grafiken sowie in Interviews beschrieben. Zudem befindet sich am Ende jedes der vier Kapitel eine Weltkarte, die übersichtlich weitere indigene Innovationen aus demselben Themengebiet zeigen.
In »Mountains« können unter anderem lebende Wurzelbrücken der in Indien beheimateten Khasis bestaunt werden. Deren Art zu Leben sei ein »example of the typical worldview of indigenous cultures who reconstruct their environs into social-ecological systems by threading spiritual and ecological knowledge together« (S. 50). An den Ifugao in den Philippinen werde klar, wie selbstverständlich Spiritualität und Naturverbundenheit in jegliche Handlung einfließe. Die »Milpa Forest Gardens« der Maya im Kapitel »Forests« zeigten, wie ganzheitliches Kreislaufdenken in die Praxis umgesetzt werden könne. Watson erklärt, dass bei dieser Form der Landwirtschaft der Anbau von Mais im Fokus stehe. Dabei würden in jedem Wachstumsstadium aufwendige Zeremonien und Rituale abgehalten. Auch die Kayapó im Amazonasbecken verdeutlichten: “Each step in the creation of their communities is an inspiration for designers on how to collaborate with nature (…)” (S. 196) Dass indigene Infrastrukturen alles andere als primitiv seien, sondern »monumental earthworks that are impressive in their Lo―TEK sophistication« (S. 244), dokumentierten Jahrtausende alte Wasserleitungen der Perser im Kapitel »Deserts«.
Die Marschenbewohner Ma’dan, südlich im Irak beheimatet, verwenden eine regionale Schilfpflanze sowohl für Nahrung und Tierfutter als auch für den Bau von Gebäuden und Booten, so die Autorin. Dieses Schilf bilde durch eine intelligente Integration biologischer Prozesse die Grundlage für die schwimmenden Inseln, auf denen das Volk lebe. »(…) literally using biodiversity upon which these cultures float« (S.311), gibt dieses Beispiel aus »Wetlands«, dem letzten Kapitel des Hauptteils, dem Anliegen der Autorin noch einmal Nachdruck.
In ihrer Schlussfolgerung ruft Julia Watson zu einer neuen Denkweise, einem neuen Umgang mit den Herausforderungen in unserem Zeitalter des Anthropozäns[1] auf. Sie betont, dass ein Problem nicht auf dieselbe Art wie dessen Ursprung gelöst werden könne, und äußert »optimism that a collaboration with Nature can save us« (S. 398). Die Vergangenheit gäbe dabei wie ein Kompass Orientierung (S. 399). “As designers, our role is to create a new ground for a positive engagement with Nature. Re-establishing this relationship means acknowledging that humans have always lived with natural systems.” (S. 399) Watson nennt abschließend die Intention des Buches eine Zusammenstellung von indigenem Design, ein »framework for adaptation and innovation« (S. 399), das ein »emergent movement of design« (S. 399) auslösen solle. Diese Werkzeugkiste soll laut der Harvard-Professorin dabei helfen, unsere Beziehung mit der Natur neu zu verwurzeln: von einer oberflächlichen zu einer symbiotischen.
Obgleich ein Großteil des Werks in einem Architekturkontext steht, dürften designaffine und umweltinteressierte Menschen darin jede Menge beeindruckende, neue Erkenntnisse finden. Die besondere Aufbereitung des Buches mit der Schweizer Bindung, den kupferfarbenen Details und den aufwendigen Darstellungen entsprechen in ihrer Wertigkeit dem Inhalt. Julia Watson gibt Anstöße für eine bewusstere und harmonischere Lebens- und Arbeitsweise und Anstöße für den Umgang mit unserem Umfeld. Die erstaunlichen Einblicke in indigene Kulturen wecken Fragen an moderne, technische Entwicklungen und das sich dadurch ändernde Verhältnis des Menschen zur Natur. Aktueller könnte dies im jetzigen Weltgeschehen und dem Vormarsch des Web 3.0 gar nicht sein.