Auch die angeblich fehlende oder zumindest fragwürdige fachliche Kompetenz der Beteiligten, die immer wieder ins Feld geführt wird[26], ist ein auf Unwissen beruhender Mythos, in mehrfacher Hinsicht. Dies betrifft einerseits die Mutmaßungen über die persönlichen und fachlichen Hintergründe der Dokumentare. Aus eigener Anschauung kann ich bestätigen, dass zumindest alle, mit denen ich darüber mehr oder weniger intensiv Kontakt hatte, selbst aus einem akademisch-wissenschaftlichen Hintergrund kommen und daher eigenes Erfahrungswissen über wissenschaftliches Arbeiten und die dafür geltenden Regeln haben. Die namentlich bekannten Beteiligten arbeiten alle als Lehrende an Hochschulen, sind zumindest promoviert und forschen und publizieren selbst zu wissenschaftlichen Arbeitstechniken und Plagiaten in der Wissenschaft.[27] Der Vorwurf, hier seien stumpfe Buchstabenzähler am Werk, die von Wissenschaft nichts verstünden, ist schlicht falsch. Bezogen auf wissenschaftliche Expertise zum Umgang mit Plagiaten im Wissenschaftsbetrieb ist die Dichte echter Fachleute unter den Beteiligten bei VroniPlag Wiki sogar sehr hoch.
Auch die immer wieder erhobene Forderung, zur Frage der Plagiatsbetroffenheit einer wissenschaftlichen Publikation dürften sich nur Wissenschaftler der gleichen Disziplin äußern, gerne auch noch eingeschränkt auf solche, die als Zeitgenossen zur Entstehungszeit der betroffenen Arbeit in dieser Disziplin gearbeitet haben[28], entbehrt jeder wissenschaftlichen Logik. Untersucht man einen Text auf eine bestimmte Form der Übereinstimmung dieses Textes mit anderen Texten und die Frage, ob diese inhaltlichen oder wörtlichen Übereinstimmungen für den Leser kenntlich gemacht werden, bedarf es keinerlei Fachkenntnisse in Tiermedizin, Chemie, Rechtswissenschaft oder Erziehungswissenschaft.[29] Am ehesten wäre eine sprachwissenschaftliche Expertise gefragt. Da aber jeder an einer Hochschule Lehrende schon in der Prüferrolle zwangsläufig einen gewissen Grad an praktischer Erfahrung mitbringt, und da die Beurteilung des Vorliegens der Übereinstimmungen eigentlich nur die Fähigkeit des sinnentnehmenden Lesens (bei Übersetzungsplagiaten ggf. allerdings auch in einer fremden Fachsprache) benötigt, ist lediglich eine Kenntnis der Regeln guten wissenschaftlichen Arbeitens erforderlich. Diese werden auch von den Wissenschaftsverbänden in ihren Grundzügen als fachübergreifend verstanden.[30] Natürlich kann man disziplinintern eine Diskussion darüber führen, wie diese Anforderungen umzusetzen sind, weswegen sich auch unterschiedliche Zitiertraditionen herausgebildet haben und die Belegangaben bei Juristen anders aussehen als bei Soziologen. In dieser Hinsicht ist VroniPlag Wiki allerdings in jeder Hinsicht flexibel, der Maßstab dort (zu dem unten noch Details ausgeführt werden) akzeptiert jede erkennbare Form der Referenz. Kurz gesagt: Es gibt keinen Grund, warum den Beteiligten in irgend einer relevanten Hinsicht zu Recht fehlendes Fachwissen vorgeworfen werden könnte.
Schließlich noch einige Gedanken zu den angeblich unlauteren Motiven der Beteiligten. Erstens sind diese nach eigenen Auskünften bei sehr vielen Beteiligten nicht gegeben.[31]. Zweitens sprechen schon die reinen Zahlen gegen insbesondere (partei-)politische Motivationen: Von 172 dokumentierten Arbeiten sind nur 18, also ca. 10 %, von Politikern angefertigt worden, 90 % der Arbeit des Wiki hat also nichts mit Politik oder Politikern zu tun.[32] Drittens ist es aber vor allem vollkommen irrelevant für die Aussagekraft der Dokumentationen. Auch bei anderen Forschungsprojekten fragt in der Regel niemand danach, aus welchen Gründen jemand in der Grube Messel nach Versteinerungen sucht, Höhlen erforscht oder Messdaten von Teleskopen auswertet.[33] Wichtig sind die dokumentierten Ergebnisse und nicht die persönlichen Motive der Forscher.
3 Die Maßstäbe für ein Plagiatsurteil
Insbesondere rund um die Plagiatsvorwürfe gegen die damalige Wissenschaftsministerin Anette Schavan gab es verbreitet den Vorwurf, hier würde eine alte Arbeit mit den falschen, nämlich heutigen Maßstäben gemessen. Die Zitierkonventionen seien zeit- und disziplinabhängig, und ein fundiertes Urteil, ob eine Arbeit tatsächlich gegen die zur Zeit ihrer Erstellung gültigen Normen verstoßen habe, könnten eigentlich nur solche Experten abgeben, die zu dieser Zeit in eben diesem Fach gearbeitet haben.[34]
Für die Feinheiten der Zitierkonventionen mag dies stimmen. Ob Referenzen formal nach dem APA Style, dem Bluebook, nach den Zitierregeln juristischer Fachzeitschriften oder den etwa in den Erziehungswissenschaften üblichen Gewohnheiten gemacht werden, ist durchaus ein optischer Unterschied, und auch die Frage, wie engmaschig Belege erfolgen sollten, wird in verschiedenen Fächern unterschiedlich beantwortet.
Plattformen wie VroniPlag Wiki sind in dieser Hinsicht allerdings äußerst tolerant. Untersucht wird vielmehr, ob sich überhaupt in irgendeiner Form einem Text entnehmen lässt, dass und in welchem Umfang Textbestände Dritter in die eigene Arbeit eingebettet wurden.[35] Dass im Bereich der Wissenschaft solche Fremdtextübernahmen transparent gemacht werden müssen, ist spätestens seit dem späten 19. Jahrhundert allgemeiner Konsens. Es lässt sich auch in entsprechenden Regelwerken belegen, dass die ungekennzeichnete Übernahme vorgefundener Ideen oder gar Formulierungen schon seit damals als wissenschaftliches Fehlverhalten galt.[36]
- [26] Beispielsweise von Riedl, Markus: Schluss mit den Albernheiten, Schwäbische Zeitung vom 9.3.2016, http://t1p.de/Riedl-SchwaebischeZeitung-20160309 (Stand 7.6.2016).
- [27] Siehe Klovert (Fn. 24).
- [28] Diese Volte wurde vor allem bei den Verteidigungsversuchen zugunsten von A. Schavan mehrfach versucht, siehe etwa Fend, Helmut; Tenorth, Elmar: »Eine gravierende Fehleinschätzung«. In: Zeit vom 17.10.2012, http://t1p.de/Fend-Tenorth-Zeit-20121017 (Stand: 7.6.2016); Schmidt, Marion: Ein guter Tag für Fußnotenzähler. In: Zeit online vom 20.3.2014, http://t1p.de/Schmidt-Zeitonline-20140320 (Stand: 7.6.2016). Sie kam aber auch im Rahmen der Diskussion um die Dissertation von U. v. d. Leyen auf, siehe Wagner, Gert G. / Richter, Cornelius: 100 medizinische Doktorarbeiten prüfen – und dann urteilen. In: Tagesspiegel vom 8.10.2015, http://t1p.de/Wagner-Richter-Tagesspiegel-20151008 (Stand: 7.6.2016).
- [29] Das sehen Frühwald, Wolfgang; v. Graevenitz, Gerhart; Honnefelder, Ludger; Lüst, Reimar; Markschies, Christoph; Rietschel, Ernst Theodor; Winnacker, Ernst-Ludwig; Wolfrum, Rüdiger: Plagiate in der Wissenschaft: »Unwürdiges Spektakel«. In: Süddeutsche.de vom 14.6.2012, http://t1p.de/Fruehwald-et-al-Sueddeutsche-20120614 (Stand: 7.6.2016), scheinbar anders, die eine Alleindeutungshoheit der jeweiligen wissenschaftlichen Disziplinen über Plagiatsfragen reklamieren und die Tätigkeit von Foren die VroniPlag Wiki als »Spektakel, das einer aufgeklärten Gesellschaft nicht würdig ist« bezeichnen.
- [30] Deswegen bezieht sich etwa die von der DFG herausgegebene Denkschrift: Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis, 2. Aufl., Weinheim 2013, auch auf alle wissenschaftlichen Disziplinen.
- [31] Eingehender dazu http://de.vroniplag.wikia.com/wiki/VroniPlag_Wiki:FAQ (Stand: 7.6.2016).
- [32] http://de.vroniplag.wikia.com/wiki/VroniPlag_Wiki:Statistik (Stand: 7.6.2016). Die Arbeiten von A. Schavan und N. Lammert wurden nicht auf VroniPlag Wiki dokumentiert, sondern auf eigenen Webseiten: https://schavanplag.wordpress.com/ und https://lammertplag.wordpress.com/ (beide Stand: 7.6.2016).
- [33] Für Letzteres stellen Millionen von Internetnutzern derzeit Rechnerkapazitäten zur Verfügung, siehe http://setiathome.ssl.berkeley.edu/ (Stand: 7.6.2016).
- [34] Auch die Allianz der Wissenschaftsorganisationen forderte in einer gemeinsamen Erklärung vom 18.1.2013 »eine angemessene Berücksichtigung des Entstehungskontextes (…), dessen inhaltliche Bewertung nur auf der Basis einschlägiger fachwissenschaftlicher Expertise vorgenommen werden kann«, http://t1p.de/Allianz-Wissenschaftsorganisationen-20130118 (Stand: 7.6.2016); kritisch dazu Wieland, Joachim: Wissenschaftsallianz als Streithelferin von Schavan. In: Legal Tribune Online vom 21.1.2013, http://t1p.de/Wieland-LTO-20130121 (Stand: 7.6.2015).
- [35] Dazu http://de.vroniplag.wikia.com/wiki/VroniPlag_Wiki:Grundlagen/Zitieren_und_Nachweis_von_Quellen (Stand: 7.6.2016).
- [36] Siehe dazu etwa Weber, Stefan: Das akademische Textplagiat in Österreich – Zwischen Rechtsprechung und Lehrbuch-Vorgaben einerseits und gelebter wissenschaftlicher Praxis andererseits. In: Rommel, Thomas (Hrsg.), Plagiate – Gefahr für die Wissenschaft?, Münster 2011, S. 31 ff. Zudem stellt das Verwaltungsgericht Düsseldorf, Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht 2014, S. 602 (612 f. und Ls. 1) fest, dass selbst wenn eine solche Praxis bestanden habe, diese auch schon zu Zeiten der Erstellung der Dissertation von A. Schavan, also in den späten 1970er Jahren, rechtswidrig gewesen wäre.