Aus diesem Grund schlage ich vor, als zweiten wichtigen Mechanismus neben der kausalen bzw. funktionalen Analogie die ästhetische Induktion zu verstehen. Das Konzept der »aeshetic induction« wurde von James W. McAllister in seinem Buch Beauty and Revolution in Science eingeführt[34]. Er versteht darunter den Schluss von ästhetischen Merkmalen naturwissenschaftlicher Theorien, wie Einfachheit, Eleganz oder Symmetrie, auf die Wahrheit dieser Theorien. McAllister zeichnet ein Bild der Naturwissenschaften, in der gewisse solcher ästhetischen Merkmale erfolgreicher Theorien als Bewertungsmaßstab für neue, noch nicht umfangreich empirisch getestete Theorien herangezogen werden. Der Autor unterstreicht dabei gleichfalls, dass dieser Schluss nie logisch zwingend sein kann, sondern maximal als eine Art Heuristik wirkt, für deren Gültigkeit es keine Garantie gibt.
In meiner Wahrnehmung operieren Techniker und Ingenieure ganz ähnlich. Wobei ästhetische Induktionen hier mindestens drei Funktionen haben: Sie leiten die Suche nach geeigneten Paradigmen an und dienen einer ersten Vorauswahl geeigneter Lösungskonzepte (i), sie helfen bei der Entscheidung zwischen verschiedenen, in ihren Kernfunktionen äquivalenten Lösungsalternativen (ii) und sie unterstützen die Problemschließung, d.h. die Ausarbeitung von Merkmalen, die festgelegt werden müssen, jedoch die Kernfunktionen nicht betreffen (iii).
i) Um die Problemkomplexität[35] der technischen Problemstellung zu reduzieren, werden für eine erste Auswahl eines geeigneten Paradigmas innerhalb eines Technikstils einfachere Kriterien wie Aussehen und Optik herangezogen. Man stelle sich einen Ingenieur vor, der einen Katalog technischer Konstruktionen durchblättert und erst einmal eine Vorauswahl an möglicherweise auf die vorliegende Problemstellung übertragbare Lösungen trifft.
ii) Es ist bekannt, dass für die Realisierung technischer Funktionen meist nicht nur eine optimale Lösung existiert, sondern sich häufig diverse Optionen bieten. Herbert Simon beschreibt dies dadurch, dass technische Lösungen nur »satisficing«[36] sein müssten, ein Neologismus, der bei ihm etwa die Bedeutung von »gut genug« annimmt. Wenn sich also ein solcher Spielraum bei der Lösungssuche bietet, können ästhetische Kriterien wie Eleganz und Einfachheit zur Einschränkung der Kompliziertheit, d.h. zur Verringerung der Anzahl möglicher Lösungen[37], herangezogen werden.
iii) Ist die Kernfunktionalität ausgearbeitet, bleiben meist diverse weitere Entscheidungen zu treffen. Ist etwa für ein mechanisches Übersetzungsproblem ein geeignetes Getriebekonzept ausgewählt, bleibt die Frage, in welches Gehäuse dieses Getriebe verbaut werden soll. Plump gesagt: ein rundes oder rechteckiges Gehäuse oder ein rechteckiges mit abgerundeten Ecken?
Dass Ingenieure tatsächlich auf ästhetische Kriterien zurückgreifen, wird an ihrer Sprache deutlich. Es ist die Rede von »eleganten« oder »schönen« Lösungen und diesen wird im Gestaltungprozess tatsächlich der Vorzug gegeben. Während allerdings McAllister für die Naturwissenschaften anzweifelt, dass die herangetragenen ästhetischen Kriterien sich direkt mit der empirischen Adäquatheit von Theorien in Verbindung bringen lassen, ist dieser Zusammenhang in der Technik sicher häufig gegeben. Was sich hier sprachlich in ästhetischen Wertungen äußert, codiert meist nur, was sich in der Vergangenheit aus sachlichen Gründen als günstig erwiesen hat, etwa fertigungstechnisch oder ökonomisch. Ob daneben noch ein genuin ästhetischer Rest bleibt, der sich nicht auf andere Faktoren reduzieren lässt, muss hier offengelassen werden.