Aus technischem Spieltrieb oder als Antwort auf konkrete Problemstellungen kombinieren also Techniker Elemente zu Systemen, wobei Paradigmen herangezogen werden, um die Suche nach sinnvollen Kombinationen anzuleiten. Wie entsteht dabei nun das technisch Neue, wenn doch nur etablierte Paradigmen nachgeahmt werden? In meiner Wahrnehmung ist hierbei entscheidend, dass die Nachahmung per Definition kein reines Kopieren darstellt. Es werden nur bestimmte Aspekte übernommen, andere werden verändert, verzerrt, erweitert, weggelassen. Für eine Darstellung solcher Mechanismen verweise ich auf Goodmans Ways of Worldmaking.[38] Wem dies zu abstrakt klingt, kann an die Verwendung von Kochrezepten denken, ein Beispiel, das viele Charakteristika mit der pharmazeutischen Technik teilt. Die Rezepte stellen dabei die Paradigmen dar. Aus verschiedenen Gründen können nun die Anteile einzelner Elemente, der Zutaten, erhöht oder verringert werden. Vielleicht ist es manchmal auch erstrebenswert, welche wegzulassen oder neue hinzuzufügen. So diffundieren Neuheiten in bestehende Formen ein.
Baustein 3: Ausarbeitung in Medien
Das Kombinieren von technischen Elementen zu Systemen findet nie im luftleeren Raum und auch nicht nur vor dem »mind’s eye«[39] von Technikern statt. So wie die verbale Sprache das Denken allgemein ermöglicht und prägt, ist auch Technik von ihren Medien geprägt[40]. Dabei ist verbale Sprache in meiner Wahrnehmung gerade nicht das dominante Medium der Technik. Technische Elemente und Systeme werden im Falle mechanischer Konstruktionen in Wechselwirkung mit Handskizzen und Zeichnungen entwickelt. Verfahrenstechnische Anlagen werden mit Hilfe von Fließbildern ausgearbeitet[41]. Elektrotechniker arbeiten mit Schaltbildern. Auch LEGO-»Konstruktionen« sind in graphischen Bauanleitungen dokumentiert. Handelt es sich nicht um rein räumliche Probleme, kommen materielle Skalenmodelle oder Computermodelle zum Einsatz, die auch die Abbildung weitere Phänomene erlauben, etwa von Bewegungsabläufen. Wird diese Wechselwirkung zwischen Darstellungsmedium und Konstruktionshandeln ernst genommen, wird also anerkannt, dass in den exemplarisch genannten Medien nicht lediglich zuvor schon fertig entwickelte Ideen nur noch dargestellt werden, folgt daraus, dass die entsprechenden Medien selbst an der Technikentwicklung teilnehmen.
Diese allgemeinen Überlegungen sollen nun durch eine Reihe von Äußerungen von Ingenieuren und Techniktheoretikern untermauert werden. Der schottische Ingenieur und Erfinder James Nysmyth notierte schon im 19. Jahrhundert: “The graphic eloquence is one of the highest gifts in conveying clear and correct ideas as to the form of objects […]”[42] und “Mechanical drawing is the alphabet of the engineer.”[43] Ulrich Glotzbach, Ingenieur und Technikphilosoph, schreibt: »Das Skizzieren selbst bildet den Gedanken weiter.« Skizzieren hat für ihn eine »gedankenpräzisierende, eine bildende […], hervorbringende Funktion«; er sieht das Skizzieren als »Probehandeln«[44]. Bei Louis Bucciarelli liest man: “In all of this it is important to realize that the object of design is not a real object; it doesn’t exist yet in process. What does exist are things like charts, acronyms, sketches, diagrams, models, mock-ups, […]”[45]. Pierre Sachse resümiert seine große Studie Idea Materialis folgendermaßen: »Die wechselseitige Beeinflussung zwischen Entwurfsdenken und Darstellungshandeln ermöglicht, dass Lösungsalternativen generiert, konkretisiert, optimiert, sowie differenziert und/oder korrigiert werden. Die Denkprozesse und das praktische Handeln sind nicht getrennt, sondern unmittelbar miteinander verschränkt. Der Vorgang des Verfertigens einer Idee beim Skizzieren und Modellieren ist durch einen fortwährenden Wechsel zwischen inneren, mentalen Operationen und äußeren, materialisierten Handlungen charakterisiert.«[46] Weiterhin heißt es dort: »Das Skizzieren bzw. Modellieren hat beim entwerfenden Problemlösen eine grundlegende lösungserzeugende und prozessunterstützende Wirkung.«[47]
- [38] Goodman, Nelson: Ways of Worldmaking. Indianapolis 1978. S. 7—17, 101. Was häufig übersehen wird: Schon sehr ähnlich wurde dies von Hans Vaihinger in seiner Philosophie des Als Ob beschrieben. Vaihinger spricht davon, wie Wirklichkeit durch »Abzüge und Zusätze« verändert werde; Vaihinger, Hans: Die Philosophie des Als Ob. Leipzig 1922. S. 289.
- [39] Ferguson, Eugene S. (1977): The Mind’s Eye. Nonverbal Thought in Technology. In: Science, 197 (4306), S. 827—836.
- [40] Hierbei ist zu beachten, dass teils auch Technik selbst als Medium gedeutet wurde; für eine knappe Übersicht vgl. Hubig, Christoph: Technik als Medium. In: Grunwald, Armin (Hg.): Handbuch Technikethik. Stuttgart 2013. S. 118—123. Dies ist hier nicht gemeint. Ich greife auf das klassische Verständnis aus der Kommunikationstheorie zurück, wonach ein Medium eine vermittelnde Instanz zwischen Sender und Empfänger ist. Medien ermöglichen dabei auch Selbstkommunikation, z. B. beim Schreiben eines Tagebuches oder in der Technik, wo Ingenieure sich durch Handskizzen ihre eigenen Ideen verdeutlichen. Hierbei sind dann der Sender und der Empfänger identisch. Es ist vielfach darauf hingewiesen worden, dass Medien ihrem Inhalt gegenüber nicht unschuldig sind; vgl. MacLuhan, Marshall: Understanding Media. Cambridge/MA 1994. Außerdem: Havelock, Eric A.: The Muse Learns to Write. New Haven 1986.
- [41] Sehr ähnlich ist auch die Symbolik, die beim Wertstromdesign zum Einsatz kommt. Vgl. hierzu Baßler, Simon: Erst Analyse – dann Design. Klaus Erlach spricht über das Potenzial von Wertstromdesign. In: Sprache für die Form, Ausgabe Nr. 2, Frühjahr 2013. Online verfügbar unter https://www.designrhetorik.de/erst-analyse-dann-design/
- [42] Zitiert nach Petroski, Henry: Remaking the World. New York 1997. S. 37.
- [43] ebd., S. 38.
- [44] Glotzbach, Ulrich: Zur heuristischen Funktion der technischen Handzeichnung. In: Kornwachs, Klaus (Hg.): Technologisches Wissen. Berlin 2010. S. 105—119.
- [45] Bucciarelli, Louis L. (2002): Between Thought and Object in Engineering Design. In: Design Studies, 23 (3), S. 219—231.
- [46] Sachse, Pierre: Idea Materialis. Entwurfsdenken und Darstellungshandeln. Berlin 2002. S. 170.
- [47] ebd., S. 171; Hervorhebungen im Original. Ergänzende Studien zum Einsatz elektronischer Medium im technischen Gestaltungsprozess sind Henderson, Kathryn: On Line and On Paper. Cambridge 1998. Und: Pache, Martin: Sketching for Conceptual Design. München 2005.