2. Unschuld: Der Topos der Arglosigkeit
Die antike Rhetorik hat sich mit der dissimulatio artis der Regel verschrieben, die eigene Kunst nicht zur Schau zu stellen. Das Verbergen der Kunst geschieht dabei nicht nur aus Bescheidenheit, sondern auch, um Vertrauenswürdigkeit zu erlangen. Denn wer allzu kunstvoll spricht, nimmt es vielleicht mit der Wahrheit nicht allzu genau. Auf diesen Zusammenhang machte uns schon Aristoteles aufmerksam: Wer sich sehr bemüht und seine Worte sorgfältig arrangiert, der könnte nämlich bei den Zuhörern den Verdacht wecken, heimlich etwas gegen sie im Schilde zu führen. Er verhalte sich wie jemand, der Wein panscht.[7] Es scheint deshalb wichtig, dem Publikum das Gefühl zu vermitteln, dass die Karten offen auf dem Tisch liegen, dass keine »hidden agenda« verfolgt wird. Dies gelingt am besten mit einer ungekünstelten Sprache und einer gewissen »Nonchalance« im Auftritt. Ja, am allerbesten erreicht dies im Grunde ein Redner, der gar keine rhetorische Schulung hat.
Die Unbeschwertheit des Dilettanten, vielleicht sogar seine Unbeholfenheit, zeugen von Arglosigkeit und bürgen dadurch für seine Redlichkeit: Wer spricht, »wie ihm der Schnabel gewachsen ist«, auch einmal ins Zögern oder Stocken kommt, wird schon keine bösen Absichten hegen. Schon im antiken Griechenland gab es deshalb das Ideal der Schlichtheit oder aphéleia: aphéleia bezeichnete ursprünglich die einfache und unverfälschte Geistesart von Kindern oder der ländlichen Bevölkerung, deren kunstloser, simpler Redestil natürlicherweise mit Ehrlichkeit und Anstand verbunden wird.[8]
Die einfache Rede kann somit auch für Reinheit des Charakters und für moralische Integrität stehen. Wer nichts von der Kunst versteht – oder wer sie geschickt zu verbergen weiss –, erzeugt den Anschein der unverfälschten Information und damit auch der Authentizität.
Im Fall der visuellen Kommunikation könnte entsprechend ein simples Faltblatt mit eingängiger Bildsprache und Struktur vertrauenswürdiger und authentischer wirken als ein ausgefallenes, komplexes Druckwerk. Gegen die Simplizität der Mittel spricht hingegen der mögliche Anschein von Naivität und Unprofessionalität oder der informelle bis billige Charakter des Produkts.
3. Spontaneität: Natürliche Kraft und echte Menschlichkeit
Wer den Eindruck hinterlässt, spontan zu reden oder auf einen Einwurf zu reagieren, erscheint sofort authentischer als eine Person, die ihre Rede scheinbar minutiös vorbereitet hat. Je komplizierter und schmuckvoller eine Rede aufgebaut ist, desto eher verliert sie ihre Unmittelbarkeit. Und desto eher kann der bereits erwähnte Verdacht aufkommen, eine falsche Absicht verberge sich hinter der kunstvollen Fassade. Der Vorwurf der Künstlichkeit der Rede oder der Abgehobenheit des Redners »im Elfenbeinturm« ist so alt wie die Rhetorik selbst. Geschliffenheit und Versiertheit schaffen Distanz. Wer dagegen holprig und ungelenk spricht und umgangssprachliche Ausdrücke verwendet, scheint nahe beim Publikum zu sein.
Das Ungeschliffene kann interessant wirken und dem Redner einen eigenwilligen Charme verleihen. Cicero beobachtet etwa, wie das Publikum einem Redner mit rauer, heiserer Stimme besonders aufmerksam zuhört.[9] Und er lässt neben Rednern, die eine feine Klinge führen, auch Redner gelten, die »ungefeilt sprechen und vorsätzlich den Ungebildeten und Ungeschulten ähneln«[10].
Worte, die roh, spontan und ungefiltert daherkommen, werden von Quintilian zudem als wirkungsmächtig anerkannt: Der ungehobelte Ton und die Ungeniertheit des Redners können eine Rede eindringlicher und kraftvoller machen[11] – wobei Quintilian diese vermeintliche Redegewalt als Akt der puren Gewalttätigkeit disqualifiziert[12].
Ein wichtiger Faktor ist auch der natürliche Ausdruck, der aus einer scheinbar spontan fließenden und roh belassenen Sprache entsteht: Wer die Sprache des Volkes spricht, hat nichts Künstliches an sich. Die spontane, unverstellte Rede kann so auch zu einem Anzeichen von Menschlichkeit werden.[13] Denn wer spontan reagiert, wer seinen Gefühlen ungebremst Ausdruck verleiht, dem scheinen die Worte direkt aus dem Herzen zu kommen. Deshalb darf eine Rede je nach Inhalt und ausgedrückter Stimmung auch einmal stockend, hart, schleichend, ungelenk oder abgehackt klingen.
Im Zusammenhang mit terroristischen Kommunikationspraktiken erhalten besonders die Gedanken des griechischen Rhetorikers Demetrios wieder Aktualität: Demetrios sieht nicht ein, warum jemand, der sich persönlich als erzürnt oder geschädigt zeigt, ausgeklügelte Worte verwenden sollte. Einen viel tieferen Eindruck hinterlasse das »von selbst entstandene Wort«, das ungehemmt und roh hervorbreche[14] Sogar offensichtliches Pathos kann schließlich – wie Aristoteles meint – angebracht sein, wenn sich der Redner und das Publikum in einer starken emotionalen Erregung befinden.
Zum Pathos gehört auch der Schwulst, der aus Sicht der antiken Rhetorik normalerweise strikt zu vermeiden ist. Gerade die Liebe zu schmückenden und glänzenden »Blümchen«, die – wie Quintilian kritisiert – meist gleich wieder abzufallen drohen[15], ist oftmals groß beim Publikum. Im Eifer der Worte können selbst die Stilhöhen einmal durcheinander geraten – auch dies ein klarer Fehler, der jedoch zugleich authentisch wirken kann.
Der spontane, ungehemmte, ungeschliffene oder emotional aufgeladene Ausdruck kann also eine natürliche Kraft erzeugen sowie die Menschlichkeit und Authentizität des Redners ausdrücken.
Ungefiltert kommen Charme und Kraft des Rohen und Spontanen einerseits in vielen Beispielen der Laiengrafik zu tragen, also im eigentlich »ungestalteten« Bereich der visuellen Kommunikation, z. B. in bunt ausgeschmückten Webseiten mit blinkendem Text und einer überbordenden Vielfalt an Schriften und Effekten. Es existiert aber auch die professionelle Strategie, Authentizität durch vermeintliche Improvisation und Ungeschliffenheit zu verströmen, z. B. im Fall der auf Zeitungen geklebten Post-it-Zettel, die anstelle üblicher Inserate als Werbemittel eingesetzt werden. Umgekehrt kann aus der Ungeschliffenheit auch der Eindruck einer ungehobelten, geschmacklosen, unkultivierten, übertrieben oder unberechenbar agierenden Persönlichkeit entstehen – was meist (aber - wie bei den letzten U.S.-Wahlen deutlich wurde - nicht immer) die Glaubwürdigkeit wieder schmälert.