Gleichzeitig erhalten diese visuellen Artefakte durch ihre unprofessionelle Machart eine gewisse Authentizität, Unmittelbarkeit und einen rebellischen Charakter. Die suggerierte Amateurmentalität und die damit verbundene Unschuld und Arglosigkeit kontrastieren jedoch aufs Schärfste mit der Brutalität des Vorgehens dieser beiden Gruppen.
Ein anderes Bild zeigt sich heute in den Kommunikationsmedien der islamistischen Terrorgruppen Islamischer Staat (IS) und Al-Qaida.
Viele Unterschiede lassen sich dabei sicherlich auf die vielfältigen neuen Herstellungs- und Distributionsmöglichkeiten wie etwa die breit verfügbaren digitalen Gestaltungswerkzeuge und das Internet zurückführen. Neben den vielen Videos, die offiziell oder inoffiziell von diesen Gruppierungen über das Internet verbreitet werden und die sehr unterschiedliche Elaborationsgrade aufweisen, stechen vor allem die ebenfalls online (als PDF) distribuierten Magazine in Englischer Sprache auf: Sie scheinen darauf abzuzielen, Personen aus der nicht-islamischen Welt zu erreichen.
Obschon gestalterisch nicht immer auf höchstem Niveau, orientieren sich die Magazine »Dabiq« (IS, seit 2014) und »Inspire« (Al-Qaida, seit 2010) ganz offensichtlich an westlichen Nachrichtenmagazinen, inklusive der professionellen Anmutung, die sich etwa in der Anwendung eines Gestaltungsrasters, der Reduktion der Stilmittel, der bewussten Verbindung von Bild und Text, der gestalterischen Klarheit und dem gezielten Einsatz von Weissraum zeigt. Besonders in der formalen Entwicklung des Magazins »Dabiq« seit seinen frühesten Ausgaben lässt sich eine deutliche Tendenz zur gestalterischen Elaboriertheit und Perfektion erkennen.
Glaubwürdigkeit wird hier offenbar nicht durch die Unmittelbarkeit der Imperfektion zu erreichen versucht, sondern durch Perfektionierung und Imitation eines dem westlichen Mediennutzer vertrauten Stils: Indem die Darstellungsmodi geläufiger Nachrichtenmagazine kopiert werden, soll den Betrachtenden vermutlich Objektivität und Seriosität suggeriert werden.
Da nun jedoch die normalerweise in westlichen Nachrichtenmagazinen als schrecklich gezeigte Realität in den islamistischen Magazinen gerade als anstrebenswertes Ziel hingestellt wird (z.B. Kindersoldaten und die von ihnen getöteten Opfer, Mordanschläge auf Privatpersonen in ihrem Zuhause), erhält die offenbarte Welt etwas Surreales, Unbegreifliches. Wie genau die beabsichtigte Werteumkehr beim westlichen Betrachter bewirkt werden soll, lässt sich nicht leicht beantworten: Wird hier Widerstand demonstriert durch die Aneignung »dekadenter« Kommunikationsstrategien? Oder erhofft sich der IS eine Akzeptanz der dargestellten Gewalt durch Gewöhnung und Abnutzung?
Konterkariert werden die vermeintlich objektiv dokumentierenden Darstellungsmodi in »Dabiq« und »Inspire« von Bildseiten mit nahezu hollywoodesker Anmutung, in denen Bildfilter, Spezialeffekte und visuelle Heroisierungstechniken intensiv genutzt werden.
Bei diesen ist die Absicht durchschaubarer – es scheint um eine Einladung zur »Action« und die Aussicht auf Heldenstatus zu gehen. Dennoch lässt sich aus der Tatsache, dass die westliche Leserschaft brutale Actionfilme oder Videogames zu Unterhaltungszwecken anschaut bzw. spielt, keineswegs ableiten, dass sie die darin dargestellte Gewalt auch im Alltag erleben oder ausüben will. Genau diese Ebenenvermischung zwischen Gewaltfiktion und der Akzeptanz oder Bereitschaft zu echter Gewalt hinterlässt den »normalen« Leser perplex. Unterliegt der IS der paradoxen Hoffnung, der Westen möge so marode sein, dass seine Bewohner nicht mehr zwischen Fiktion und Realität unterscheiden können, d. h. möchte der IS ernsthaft Menschen für sich gewinnen, die sich in einem Actionthriller oder Sniperspiel wähnen?
Der Absender IS gibt hier offenbar den Anspruch an Authentizität selbst preis, indem sich sein Vorhaben entweder als Kunstprodukt erweist oder aber dem IS jegliche Menschlichkeit und moralische Integrität abgesprochen werden muss.
Literatur
Aristoteles: Rhetorik. Übersetzt und herausgegeben von Gernot Krapinger. Stuttgart 2005. (Aristot. rhet.)
Bernecker, Roland: Apheleia. In: Ueding, Gert (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 1. Tübingen 1992. Sp. 769—772.
Cicero, Marcus Tullius: De oratore. Übersetzt und herausgegeben von Harald Merklin. Zürich, Düsseldorf 2014. (Cic. de orat.)
Cicero, Marcus Tullius: Orator. Übersetzt und herausgegeben von Bernhard Kytzler. Düsseldorf, Zürich 1998. (Cic. orat.)
Demetrios: Vom Stil. Übersetzt und herausgegeben von Emil Orth. Saarbrücken 1923. (Demetr. eloc.)
Quintilianus, Marcus Fabius: Ausbildung des Redners. Übersetzt und herausgegeben von Helmut Rahn. Darmstadt 1995. (Quint. inst.)