Dis­rup­ti­on: Auf­stieg eines Kampfbegriffs

Mit einer Rup­tur (engl. rup­tu­re, lat. rup­tu­ra )[15] bezeich­net man in der Medi­zin den Riss in einem Organ, z. B. der Leber oder der Aor­ta. Zer­rei­ßen bedeu­tet einer­seits eine Tren­nung inner­halb etwas Gan­zem, sei es funk­tio­nal oder topo­lo­gisch, in meh­re­re Tei­le, nicht als Schnitt, son­dern mit unge­ra­den Rän­dern an den geris­se­nen Tei­len. Die­se Rup­tu­ren sind bis­wei­len schwer zu hei­len, weil nicht wie­der sau­ber zusam­men­zu­fü­gen, manch­mal mit töd­li­cher Kon­se­quenz. Und es bedeu­tet, dass es ein Sub­jekt gibt, das über das unbe­stimm­te »es« in dem Satz: »Es ist zer­bro­chen« hin­aus­geht – für das Zer­rei­ßen gibt es eher eine men­schen­ge­mach­te Ursa­che: »Sie zer­riss das Band …«

So ver­steht ein Online-Wirt­schafts­le­xi­kon, das für sei­ne grif­fi­gen Defi­ni­tio­nen vor allem bei Stu­die­ren­den der Wirt­schafts­wis­sen­schaf­ten beliebt ist, unter dis­rup­ti­ven Tech­no­lo­gien: »Dis­rup­ti­ve Tech­no­lo­gien (engl. ›dis­rupt‹: ›zer­stö­ren‹, ›unter­bre­chen‹) unter­bre­chen die Erfolgs­se­rie eta­blier­ter Tech­no­lo­gien und Ver­fah­ren und ver­drän­gen oder erset­zen die­se in mehr oder weni­ger kur­zer Zeit. Sie ver­än­dern auch Gewohn­hei­ten im Pri­vat- und Berufs­le­ben[16]

Deskrip­tiv wird mit Dis­rup­ti­on gene­ra­li­sie­rend eine Ver­än­de­rung bezeich­net, die der Erschei­nung nach plötz­lich erfolgt, zunächst unab­hän­gig davon, ob sie vor­her­seh­bar war oder nicht.

Die Anwen­dung des Begriffs der Dis­rup­ti­on bei Inno­va­tio­nen ist oft miss­ver­stan­den wor­den. Der Begriff der dis­rup­ti­ven Inno­va­ti­on, den der Öko­nom Clay­ton Chris­ten­sen in sei­nem Haupt­werk ent­wi­ckel­te, geht davon aus, dass es Effi­zi­en­zin­no­va­tio­nen gibt, was Auf­wand und Kos­ten bei Pro­duk­ti­on und Ver­trieb redu­ziert, und inkre­men­tel­le Inno­va­tio­nen, die nur dis­rup­tiv erschei­nen, es aber nicht sind.[17]

Denn der Fort­schritt ist eine Schne­cke. Wenn man bei der Bewe­gung einer Schne­cke eine Wei­le nicht hin­schaut, ist die Schne­cke schein­bar plötz­lich am ande­ren Ran­de des Sicht­felds ange­langt, also über­ra­schend oder unge­wöhn­lich rasch. Man hät­te es aber sehen kön­nen. Bei Son­nen­un­ter­gän­gen kann man ähn­li­che Erfah­run­gen machen.

Es kann also durch­aus sein, dass der Betrach­ter kei­ne dis­rup­ti­ven Pro­zes­se im Auge hat­te, son­dern kon­ti­nu­ier­li­che Pro­zes­se, die ihm dis­rup­tiv erschei­nen, je nach­dem, wie er sein Beob­ach­tungs­ver­hal­ten anlegt. Unab­hän­gig davon scheint aller­dings die Inten­si­tät des Ein­drucks der Dis­rup­ti­on umso stär­ker zu sein, des­to unvor­her­seh­ba­rer der Ver­än­de­rungs­pro­zess ein­ge­schätzt wird.

Eine dis­rup­ti­ve Inno­va­ti­on hin­ge­gen kommt nach Chris­ten­sen nicht durch einen tech­no­lo­gi­schen Durch­bruch oder eine Ver­bes­se­rung zustan­de, son­dern dadurch, dass auf Pro­duk­te und Dienst­leis­tun­gen bes­ser zuge­grif­fen wer­den kann, dass sie erschwing­lich wer­den und des­halb einem wei­ten Kun­den­kreis ver­füg­bar gemacht wer­den kön­nen.[18] Des­halb ist nach Chris­ten­sen der Begriff der Dis­rup­ti­on auf Effi­zi­enz- und inkre­men­tel­le Inno­va­ti­on nicht anwend­bar und führt zu Miss­ver­ständ­nis­sen[19] oder – und dies als mei­ne Ver­mu­tung – zu beab­sich­tig­ten Fehlinterpretationen.

In den Sprech­ak­ten, die in der Wirt­schaft und ihrem publi­zis­ti­schen Über­bau üblich sind,[20] wird Dis­rup­ti­on nicht nur mit der Behaup­tung als Deskrip­ti­on, son­dern im Unter­schleif mit der Illo­ku­ti­on der War­nung, viel­leicht auch der Dro­hung benutzt. Man möge sich doch gefäl­ligst auf die beab­sich­tig­ten Ver­än­de­run­gen ein­stel­len, die dann aber ganz plötz­lich kom­men sol­len. Die beab­sich­tig­te Wir­kung von Sprech­ak­ten, die das Wort Dis­rup­ti­on ver­wen­den, ist aber, wie Mat­thi­as Horx[21] rich­tig ana­ly­siert, die Induk­ti­on einer Angst vor uner­war­te­ten Ver­än­de­run­gen, die Ver­lus­te mit sich brin­gen könn­ten an Wohl­stand, Sta­tus, Bedeu­tung, lieb­ge­won­ne­nen Gewohn­hei­ten oder gar der Brauch­bar­keit der eige­nen Fähig­kei­ten. Die­se Angst soll dann zu eher gefü­gi­gen Ver­hal­tens­än­de­run­gen füh­ren, die die Ver­än­de­run­gen erträg­li­cher oder akzep­ta­bler machen wer­den. Denn es geht, wie Horx rich­tig aus­führt, nicht nur um Tech­no­lo­gie und IT, »son­dern auch um Ver­fah­ren, Denk­wei­sen, Pro­zes­se, Sys­te­me und gan­ze Kul­tu­ren«[22].

Damit ist der Kampf­auf­trag des Begriffs schon umschrie­ben: Der Appell an den­je­ni­gen, der sein Ver­hal­ten auf die Dis­rup­ti­on ein­stel­len soll, geschieht in der Absicht, den Situa­ti­ons­mäch­ti­gen, wie es in der Rhe­to­rik heißt, mit der Unver­meid­lich­keit der Ver­än­de­rung ver­traut zu machen. Dies funk­tio­niert zunächst unab­hän­gig davon, ob die­se Ver­än­de­rung als qua­si natur­ge­setz­lich pro­pa­giert wird, oder zuge­ge­ben wird, dass sie auf­grund von Wil­lens­bil­dung zustan­de gekom­men sei. Der Ein­druck der Unver­meid­lich­keit wird dadurch natür­lich ver­stärkt, wenn der Ver­wen­der des Begriffs die kom­men­den Pro­zes­se als eine Fol­ge zwangs­läu­fi­gen Gesche­hens dar­stellt. Damit beab­sich­tigt er, die fak­ti­sche Akzep­tanz, nicht aber unbe­dingt die Akzep­ta­bi­li­tät beim betrof­fe­nen Rezi­pi­en­ten zu verstärken.

Die seman­ti­sche Rest­men­ge des Begriffs »Dis­rup­ti­on« speist sich aus der Dras­tik der Ver­än­de­rung und der behaup­te­ten Irrever­si­bi­li­tät, wie der Gebrauchs des Begriffs in der Medi­zin in sol­chen Fäl­len nahe­le­gen wür­de. Es blei­be also nichts ande­res übrig, als sich mit dem Neu­en sich zu arrangieren.

Dis­rup­ti­ve Technologien?

Die in den Lexi­ka genann­ten Bei­spie­le für dis­rup­ti­ve Tech­no­lo­gien sind eigent­lich kei­ne, wenn man die ent­spre­chen­den Zeit­ho­ri­zon­te der Erset­zung der alten Tech­no­lo­gien durch neue betrach­tet. Denn in den Zwi­schen­zei­ten kön­nen sol­che alten und neu­en Tech­no­lo­gien par­al­lel bestehen,[23] so auch in den oft genann­ten Bei­spie­len[24]: Die IP-Tele­fo­nie ersetzt mitt­ler­wei­le flä­chen­de­ckend das ISDN, das ISDN ersetz­te die Ana­log­te­le­fo­nie. Die Digi­tal­ka­me­ra ersetz­te die che­mi­sche Pho­to­gra­phie, die Halb­lei­ter haben bis auf weni­ge Aus­nah­men die Röh­ren­tech­no­lo­gie ersetzt.[25] Die her­kömm­li­che Druck­tech­nik (Blei­satz) wur­de durch Com­pu­ter­satz ersetzt, CAD ersetz­te das tech­ni­sche Zeich­nen am Brett, die Vinyl­schall­plat­te wur­de durch Band und Com­pact Cas­set­te ersetzt, danach kamen die CDs und schließ­lich die Ver­wen­dung von mp3- oder mp4-Files auf Play­ern und dann auf Han­dys. Das brei­te Ampex-Video­band wur­de durch VHS-Kas­set­ten, die­se dann durch DVD und Blue Ray ersetzt, Flach­bild­schir­me ersetz­ten die Röh­ren­bild­schir­me. Dem ana­lo­gen Auto­te­le­phon (C-Netz) folg­ten die Han­dys und schließ­lich das Smart­phone. Die Erset­zung zogen sich über gewis­se Zeit­räu­me hin, waren nicht in allen Gebie­ten voll­stän­dig, d. h. es waren alte und neu Tech­no­lo­gien par­al­lel im Gebrauch.

Man könn­te des­halb eher von Kon­ver­genz­pro­zes­sen durch Gerä­te und Kom­po­nen­ten aus unter­schied­lich ent­wi­ckel­ten Tech­no­lo­gien spre­chen. Dies bedeu­tet, dass Teil­funk­tio­na­li­tä­ten und Kom­po­nen­ten einer Tech­no­lo­gie durch sol­che aus einer ande­ren, schon bestehen­den Tech­no­lo­gie aus­ge­tauscht wer­den. Bei genaue­rem Hin­se­hen stellt man fest, dass die tech­ni­sche Funk­tio­na­li­tät und die Peri­phe­rie bei den genann­ten Gerä­ten im Wesent­li­chen gleich­ge­blie­ben sind, aber bei den Kom­po­nen­ten ein ent­spre­chen­der Aus­tausch statt­ge­fun­den hat. Dis­rup­tiv kann man die­se Vor­gän­ge im Sin­ne von Chris­ten­sen noch nicht nen­nen. Inno­va­tio­nen, gleich­gül­tig, ob sie auf Kon­ver­genz oder einer bahn­bre­chen­den Ent­de­ckung und Ent­wick­lung basie­ren, haben in der Tech­nik­ge­schich­te meist gut erkenn­ba­re Vorgänger.

Ob die als Gene­ral Pur­po­se Tech­no­lo­gies dar­ge­stell­ten Bei­spie­le wie Dampf­ma­schi­ne, Strom, Com­pu­ter und das World Wide Web, dem nun etwas groß­spu­rig KI hin­zu­ge­sellt wird,[26] dis­rup­ti­ve Tech­no­lo­gien waren oder sind, kann man eben­falls bezwei­feln. Die Dampf­ma­schi­ne hat­te ihre Vor­läu­fer, bevor James Watt sie durch die Ein­füh­rung eines Flieh­kraft­reg­lers ver­bes­ser­te und erst groß­flä­chig ein­satz­fä­hig mach­te. Die Ein­füh­rung des elek­tri­schen Stroms als flä­chen­de­cken­de Ener­gie­ver­sor­gung hat eben­falls eine lan­ge Vor- und Ent­wick­lungs­ge­schich­te. Die Idee des Com­pu­ters als uni­ver­sel­ler logi­schen Maschi­ne geht schon auf Rai­mun­dus Lul­lus (1232—1316) und des­sen Vor­stel­lung einer ars magna zurück, dann führ­te der Weg über G. W. Leib­niz, Alan Tou­ring und dem Relais­rech­ner von Kon­rad Zuse hin zu den ers­ten gro­ßen Maschi­nen wie dem ENIAC-Com­pu­ter. Das Web hat sei­ne Vor­läu­fer im mili­tä­ri­schen und wis­sen­schaft­li­chen Bereich (ARPA-Net), und an der Künst­li­chen Intel­li­genz ist heu­te auch nicht viel Neu­es, was man nicht schon im Prin­zip in den 60er Jah­ren gekannt hät­te.[27] Der Sprung, wenn es einer gewe­sen sein soll, besteht in der Orga­ni­sa­ti­on immenser Spei­cher- und Rechen­ka­pa­zi­tä­ten, der heu­te als ein Sprung von Quan­ti­tät in Qua­li­tät inter­pre­tiert wird. Auch der ChatGPT ist im Prin­zip nichts Neu­es, denn die zuge­hö­ri­ge Mathe­ma­tik und der for­ma­le, d. h. logi­sche Appa­rat ist zum Teil über 80 Jah­re alt.[28]

Man sieht an die­sen kur­zen Bei­spie­len, dass der Begriff »Dis­rup­ti­on« für die tech­ni­sche Ent­wick­lung zumin­dest deskrip­tiv irre­füh­rend ist und man sich des Begriffs bedient, um die Unver­meid­lich­keit der Ein­füh­rung einer Tech­no­lo­gie gleich­sam als natur­ge­setz­lich unver­meid­bar dar­zu­stel­len – die orga­ni­sa­to­ri­schen, öko­no­mi­schen, gesell­schaft­li­chen und psy­cho­lo­gi­schen Fol­gen müs­sen eben dann in Kauf genom­men werden.

  1. [15] Vgl. Psychr­em­bel (1994), S. 1351: Riß, Stö­rung, Unter­bre­chung, Beein­träch­ti­gung. Wei­te­re Neben­be­deu­tun­gen sind: Bruch, Zusam­men­bruch , Zer­rüt­tung , Beläs­ti­gung, Trennung. 
  2. [16] Vgl. https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/disruptive-technologien-54194/version-384599. Als eine ers­te Ver­öf­fent­li­chung, die im tech­no-öko­no­mi­schen Bereich den Begriff der dis­rup­ti­ven Tech­no­lo­gie ver­wen­det, dürf­te der Auf­satz von Chris­ten­sen, Bower (1995) gelten. 
  3. [17] Vgl. Chris­ten­sen (2011).
  4. [18] “Dis­rup­ti­ve Inno­va­tions are NOT breakth­rough tech­no­lo­gies that make good pro­ducts bet­ter; rather, they are inno­va­tions that make pro­ducts and ser­vices more acces­si­ble and afforda­ble, ther­eby making them available to a lar­ger popu­la­ti­on.” In: https://www.christenseninstitute.org/theory/disruptive-innovation/
  5. [19] Chris­ten­sen (2011).
  6. [20] Wir mei­nen hier die Bericht­erstat­tung auf den Wirt­schafts­sei­ten der Zei­tun­gen und Maga­zi­ne, Geschäfts­be­rich­te und Power­point-Prä­sen­ta­tio­nen auf Quar­tals­ba­sis bis hin zu wis­sen­schaft­li­chen Arti­keln in öko­no­mi­schen Fachzeitschriften. 
  7. [21] Horx (2017).
  8. [22] Horx (2017).
  9. [23] Ent­nom­men pars pro toto aus https://de.wikipedia.org/wiki/Disruptive_Technologie
  10. [24] Ent­nom­men pars pro toto aus https://de.wikipedia.org/wiki/Disruptive_Technologie
  11. [25] Aus­nah­men sind z. B. hoch­wer­ti­ge Audio­an­la­gen mit Röh­ren­ver­stär­ker und Freiland-Sendeanlagen. 
  12. [26] Bryn­jolfs­son, McA­fee (2014).
  13. [27] Die Lern­ma­trix als Pro­to­typ eines ler­nen­den Sys­tems gilt als eine frü­he Ent­wick­lung von Stein­buch (1961).
  14. [28] Wie Sta­tis­tik, Fou­rier­ana­ly­se und Mus­ter­er­ken­nung. Etwas neue­ren Datums sind Neu­ro­na­le Net­ze, McCul­loch, Pitts (1943), und die mathe­ma­ti­sche Lin­gu­is­tik, die auf Logik­kal­kü­len basiert, z. B. Chom­sky (1969) oder Mon­ta­gue (1974).