Der wirtschaftstheoretische Hintergrund
Damit kommen wir zurück zur oben schon erwähnten »schöpferischen Zerstörung«. Dabei gelten alte Strukturen, Arbeitsformen, Technologien und Qualifikationen als überflüssig oder nunmehr als unnütz und gehen verloren. D. h., es wird Verlierer geben, aber der Gewinn des Schöpferischen wird diese Verluste nach Josef Schumpeter mehr als ausgleichen.[29] Die gesamtwirtschaftlichen Entwicklungen solcher Umbrüche, die man im Erfolgsfall Innovationen nennt, beobachtete Joseph Schumpeter im Hinblick auf das gesamtwirtschaftliche System einer Nationalökonomie als positiv und der Prosperität zuträglich und deren Auswirkungen unfraglich als hinnehmbar. Denn sie würden den Fall der Profitrate und damit die Bildung von Monopolen verhindern. Insofern ging Schumpeter mit Marx konform, allerdings sah er die Entwicklung kritisch, denn ständige Veränderung und Neuerung verlangen neue Regelungen, und diese müssten nach Schumpeter über kurz oder lang zu einer Planwirtschaft wie im Sozialismus führen.[30]
Nicht betrachtet wird das individuelle Leid, das durch solche Umbrüche erzeugt wird, weil die neuen, durch den Umbruch erst nachher entstehenden Jobs, zum Beispiel bei neuen Technologien, nicht diejenigen bekommen, die zu Beginn der schöpferischen Zerstörung »freigesetzt« wurden. Das erhöht bekanntlich die Sockelarbeitslosigkeit, die man dann durch wirtschaftliches Wachstum abzubauen oder durch demographische Entwicklung abzumildern hofft.[31] Im Augenblick überwiegt der demographische Faktor.
Hier sind die Interessen der Jobverlierer mit den Interessen der Gewinner einer solchen Entwicklung kaum deckungsgleich. Der verschleiernde Charakter des Begriffs »schöpferisch« relativierte lange die bedrohliche Konnotation des Begriffs der »Zerstörung«. Mittlerweile durchschauten viele Menschen entweder die Naivität oder die Verlogenheit des Begriffs, sodass er lange nicht mehr verwendet wurde. Er tauchte zum ersten Mal wieder in der Innovationsrhetorik der Technologieprotagonisten auf, als man bei der Beobachtung der Dynamik des japanischen Maschinenbaus Mitte der 80er Jahre in Europa in Panik geriet und daraufhin begann, die Produktionsabläufe erneut zu rationalisieren, Der Siegeszug des Computers durch die Fabriken und Büros beschleunigte sich immens.[32]
Auch damals gab es Gewinner und Verlierer, wobei man letztere mit dem bundesweiten und langjährigen Programm der »Humanisierung der Arbeit« zu besänftigen versuchte.[33] Der damalige Aufschwung der Wirtschaft verdeckte die Schübe zu steigenden Stufen der Langzeitarbeitslosigkeit, die bei jeder technologischen Innovation entstehen und meist nie ganz abgebaut werden.
So versprach eine McKinsey-Studie für die Digitalisierung, dass Netto mehr Jobs entstehen würden, als verloren gingen, setzte aber für diese Prognose die Rahmenbedingung eines weltweiten Wirtschaftswachstums von 3 % voraus.[34] Woher dieses Wachstum in der gegenwärtigen wie damaligen Situation herkommen soll, wird in den Reports selten diskutiert, noch ist die zeitliche Verzögerung zwischen Verlust von Jobs und des Entstehens von neuen Jobs ein Thema, also eine zeitliche Lücke, die dazu führt, dass die alten Angebote an Qualifikation und Kompetenz am Arbeitsmarkt freigesetzt werden und die jungen Arbeitskräfte, die man hierfür ausbilden könnte, noch nicht und nicht in genügender Anzahl auf dem Ausbildungsmarkt angelangt sind. Diese zeitliche Verzögerung, die zu Lasten derer geht, die nicht mehr rechtzeitig qualifiziert werden können, sei es durch Aus- oder Weiterbildung, durch die Verwendung der Begriffe »netto« und »brutto«, wenn es um die Taxierung der Jobverluste und -gewinne geht, wird mehr als verschleiert.[35]
Neben dem euphemistischen und Interesse verschleiernden Gebrauch des Begriffs »schöpferische Zerstörung«, der mittlerweile synonym zu »Disruption« gebraucht wird (was dem ersten Typ des Missbrauchs von Begriffen entspricht), gibt es eine interessante Spur der Begriffsverwendung. Sie führt geradeaus ins Silicon Valley und zu einem Denken über Gesellschaft und Technologie, welches beim europäischen Denken ein Gefühl zwischen Erschrecken und Verwunderung auslöst.
Interesse und Begriff
In seiner Analyse der ideengeschichtlichen Hintergründe von Apple, Google und anderen Vertretern der weltweit erfolgreichsten Technologiebranchen im Silicon Valley seziert der amerikanische Literaturwissenschaftler Adrian Daub auch den Disruptionsbegriff, dessen Ursprung er ebenfalls bei Josef Schumpeter verortet.[36]
Mit diese Analyse kann man die Kontextabhängigkeit der Bedeutung gut im Geflecht der Interessen derer, die den Begriff benutzen, systematisieren. Damit wird der Begriff im Rahmen der Rhetorik und der Sprachakttheorie geradezu zu einem Lehrbeispiel für die These, dass schon die Verwendung eines Begriffs in einem Sprechakt dessen Illokution überformen, verändern, verschleiern oder verstärken kann. Anders ausgedrückt: Man kann nicht nur mit einer Behauptung, sondern auch mit der Verwendung eines Begriffs lügen.
Man kann den Begriff Disruption verwenden, wenn man eine Entwicklung für nicht kontinuierlich hält, etwa so, wie man in der mathematischen Analysis nachweist, dass eine Funktion nicht mehr kontinuierlich, also nicht mehr stetig ist und einen Sprung macht oder sich die Lösung einer Gleichung an einem Punkt plötzlich ändert.[37] Das ist gewissermaßen die wertfreie, klinisch reine Diskussion einer Dynamik, die wohl im richtigen Leben nicht oder nur sehr selten vorkommt. Denn disruptiv oder nicht – bei den Entwicklungen, die so gekennzeichnet werden, steht für jeden am Diskurs Beteiligten wohl etwas auf dem Spiel.[38]
Verwendet man den Begriff in normativer, also bewertender oder vorschreibender Absicht, so kann man diese Absicht wieder unterteilen in eine beurteilende Verwendung, d. h. ob man die Entwicklung gut oder schlecht findet, und eine protagonistische, d. h. eine Verwendung des Begriffs in Aussagen, die die Disruption oder die Kontinuität nicht nur freudig begrüßen, sondern auch fordern. Man kann damit eine kleine Tabelle (s. u.) aufbauen, die diese Unterscheidung systematisiert und zu weiteren Überlegungen anregen soll.
Damit stoßen wir auf die alte Frage der Innovationstheorie, ob es überhaupt etwas völlig Neues geben kann, was also nicht aus geltendem Wissen oder dem gesunden Menschenverstand ableitbar, oder den Regeln der Geschäftswelt, der Politik und der Technik unterworfen ist. Oder stellt das Neue lediglich ein »Face-Lifting« von Altbekanntem und dessen Kombinationen im neuen Gewand dar – des Kaisers neue Kleider eben?
Neue Lebenserfahrungen können in der Tat plötzlich, d. h. unvorhersehbar, aber nicht undenkbar, eintreten: Tod eines geliebten Menschen, Kündigung der Arbeitsstelle, Unfall, Erkrankung, kriegerische Ereignisse und so fort. Diese sind die schwarzen Schwäne auf individueller Ebene. Wahlergebnisse sind aufgrund moderner Prognoseverfahren meist gut vorhersehbar mit nur minimalen Abweichungen, Revolutionen, Kriegsausbrüche oder Pandemien eher nicht. Ein Börsencrash oder ein Sturz eines einzelnen Börsenwertes kann ebenfalls gefühlt schlagartig erfolgen, wenn man vorher die Ursachen nicht kennt und nicht zur Kenntnis nehmen wollte. Hinterher ist man eben immer klüger. Das Unvorhersehbare ist nicht unbedingt immer das Neue, sofern es im Rahmen des Denkbaren bleibt.
- [29] Schumpeter (1911).
- [30] Schumpeter (1959), zit. nach Daub (2020), S. 122.
- [31] Vgl. Kornwachs (2023), Kap. 5.5.3, S. 186 ff.
- [32] Womack et al. (1990)
- [33] De facto ein Förderprogramm des damaligen Bundesministeriums für Forschung und Technologie der BRD, das die Unternehmen bei Qualifikationsmaßnahmen für ihre Belegschaften subventionierte, aber die Erforschung der Folgen der Computerisierung der 80er Jahre für die Arbeitsstrukturen nur unterproportional beforschte.
- [34] Z. B. die Studien von McKinsey & Company (2023); Chui, Hazan et al. (2023); Madgavkar (2024). Auf frühere Studien wird dort Bezug genommen.
- [35] Kornwachs (2023), Kap. 5.4, S. 174 ff.
- [36] Im Folgenden wird auf Daub (2020), Kap. 6, S. 115 ff. Bezug genommen.
- [37] So hat z. B. die Funktion f(x) = sinx /x an der Stelle x=0 einen Pol, d. h. sie »kippt« von minus Unendlich auf plus unendlich. Die mathematische Chaostheorie behandelt ebenfalls sprunghafte Veränderungen von Lösungscharakteristiken bei minimalsten Veränderungen von Randbedingungen.
- [38] Daub (2020), S. 115.