Wir bewegen uns noch auf der deskriptiven Ebene, auf der man lediglich die Beobachtungen oder Extrapolation in Form von Erwartungen wiedergibt. Wenn wir jedoch die Dichotomie zwischen gängiger Innovationsrhetorik der Protagonisten einer neueren Technologie und einer Skepsis ansprechen, die eher zu apokalyptischen Prognosen der Folgen einer Technologie neigt, sind wir auf schon der normativen Ebene, also beurteilend, will heißen: herbeiredend oder ablehnend. Hier wird der Begriff der Disruption für die eigenen Interessen eingesetzt, sei es für Hoffnungen oder Befürchtungen. Letztere sind Haltungen, die aus einer Bewertung folgen, die zusammen anhand konkreter Rahmenbedingungen Interessen definieren. Wir wollen diese Interessen hier Handlungsinteressen nennen, weil sie in der Regel zu Handlungsaufforderungen an sich selbst und andere führen.
Nun ist es oft der Fall, dass eine neue Technologie neue Geräte hervorbringt, die organisatorische Hülle aber nur wenig ändert. Ein E-Book wird aufgrund eines Manuskripts, das von einem Autor geschrieben wurde, hergestellt, vom Leser gekauft und gelesen. Lediglich das technische Medium hat sich verändert, wobei sowohl das gedruckte Buch als auch das E-Book bei Plattformen wie Amazonas, aber auch im Buchhandel erworben werden können. Man kann also kaum behaupten, dass diese Entwicklung eine Disruption bedeute, zumal E-Book und gedrucktes Buch immer noch friedlich koexistieren.[39] Es ist Daub zuzustimmen: Unsere Kategorien, mit denen wir Technologie beurteilen, stellen für die Protagonisten der Disruption den Angriffspunkt par excellence dar.[40] Schließlich handelt es sich bei diesen Kategorien gewissermaßen um die Urteilskraft der Öffentlichkeit.
Das bedeutet, dass wir als Konsumenten nach den Vorstellung der Protagonisten unsere Präferenzen und Werte und damit in der konkreten Situation unsere Interessen an die Kategorien der neuen Technik anpassen sollten: »Die Disruption ist eine Möglichkeit, die Anpassung der Kategorien narrativ zu untermauern.«[41] Das geht so weit, dass von grundlegenden Veränderungen des Kapitalismus durch künstliche Intelligenz und deren neuere Entwicklungen geredet wird. Da sollen wohl Staat und Gesellschaft, Gemeinschafts- und Privatleben umgekrempelt werden.
Das Ganze hat etwas Atemloses – es ist in gewisser Weise der Wunsch, die Langeweile alltäglichen Gelingens zu überwinden und in eine Phase permanenter Umwälzungen einzutreten. Diese permanente Umwälzung haben schon Karl Marx und Friedrich Engels in ihrem kommunistischen Manifest propagiert. Wir kommen darauf zurück.
Nun aber wird die Metapher des Kampfes von David gegen Goliath beschworen – will heißen: die Startups gegen die ganz Großen. Dies ist schlicht unpassend, wenn nicht gelogen, weil der angegriffene Goliath den David einfach aufkauft. Und David hat es seinerseits sowieso darauf angelegt.
Wenn Disruption eine Methode ist »die Geschichte der Bedeutung von Kontinuität und Diskontinuität neu zu erzählen«[42], dann wird der fundamental manipulative Charakter dieser Erzählung in den Sprechakten der Protagonisten deutlich. Folgt man ihnen, dann wird die Kontinuität deshalb begrüßenswerterweise unterbrochen, weil sie es als Kontinuität verdient hat. Das geht bis hin zur Forderung, dass die zur Diskontinuität führende neue Technologie verschwinden muss, egal wie funktionstüchtig sie gewesen sein mag – Hauptsache, das Alte muss weg, weil es alt ist. Die Logik der Disruption ergibt dann, dass Unternehmen oder Prozesse verschwinden sollten, weil sie nur das tun, was sie schon immer getan haben.[43] Ist es also, wie Daub fragt, die Bedingung dafür, modern zu sein, dass man es für gefährlich zu halten hat, dass die Dinge zu lang unverändert bleiben?[44]
Es gab allerdings in den achtziger Jahren eine Bejahung der Veränderung als Selbstwert, ohne über Disruption geredet zu haben – das war der Begriff des Kai Zen, d. h. der inkrementellen, also Schritt für Schritt erfolgenden Verbesserung von Strukturen, Prozessen, Geräten und Konzeptionen, gerade in der produzierenden Industrie. Gleichwohl wurde diese japanische Idee im Westen auch gleich wieder als Revolution verkauft.[45]
Verfolgt man die Diskussion jenseits der Hochglanzprospekte und YouTube-Videos, stellt man in den Online-Workshops fest, dass gerade die Industrie bei der Einführung von KI noch sehr zögerlich ist. Die Umsetzung stockt, und dies hat eine ganze Reihe von Gründen. Man kann Menschen nicht von heute auf morgen in völlig veränderte Sachverhalte und Routinen im Schnellverfahren qualifizieren; Verstehen, Einüben und die Entwicklung von Können brauchen letztlich Zeit.[46]
Der von den Protagonisten der Disruption beklagten Angst, Fehler zu machen, wird die Forderung entgegengesetzt, eine Bereitschaft zu entwickeln, »gekonnt scheitern zu können«. Man möge doch bitte eine Fehlerkultur entwickeln[47] und mutig genug sein, »das Ganze eben einfach noch mal zu machen«[48]. Wie karrieredienlich das ist, wird jedoch nicht gesagt.
Es geht bei dieser Aufforderung wohl nicht nur darum, mit neuer Technik umgehen zu lernen, sondern auch darum, den Kampf um das Verlieren und Gewinnen aufzunehmen, d. h. bereit zu sein, sich mit den Veränderungen der Technik, der Organisation und Institution auf der persönlichen Ebene anzufreunden, seine Gewohnheiten anzupassen und sich selbst zu verändern. Dass es bei dieser schöpferische Zerstörung neben den Gewinnern, die auf der Seite des Schöpferischen stehen, Verlierer geben wird, die auf der anderen Seite die Zerstörung zu spüren bekommen, bleibt in den einschlägigen Schriften seltsam unterbelichtet. Als Aktionär, Vorstandsmitglied oder Investor kann man die Folgen einer propagierten Disruption eher in Kauf nehmen als der Privatkonsument oder der abhängig Beschäftigte.
Schöpferische Zerstörung
Marx und Engel sprachen in ihrem Kommunistischen Manifest von der »fortwährend(en) Umwälzung der Produktion, die ununterbrochenen Erschütterung aller gesellschaftlichen Verhältnisse … alle festen, eingerosteten Verhältnisse … werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende wird verdampft. Alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.«[49] Daub spricht in diesem Zusammenhang von der »freudigen Erregung der Autoren«, die man auch bei den Protagonisten der KI und ihrer Spielarten oder gar der Singularität heraushören und lesen kann.[50]
Bei Joseph Schumpeter war die schöpferische Zerstörung noch als deskriptives Konzept, nicht normativ gemeint. Er bezog sich in seiner Analyse auf Konjunkturzyklen und den gesellschaftlichen Konsequenzen.[51] Schumpeter ging von Marx aus, der behauptete, dass die kapitalistische Produktionsweise Revolution unvermeidlich mache, da die durch den technischen Fortschritt bedingte zunehmende Effizienz der kapitalistischen Ausbeutung zu einer Absenkung der Profitrate führen müsse. Der Rückgang der Profitrate führe zu Monopolen.[52] Bei Marx führt dies zur Revolution, bei Schumpeter ist die schöpferische Zerstörung der »fundamentale Antrieb (, er) kommt von neuen Konsumgütern, neuen Produkten und Transportmethoden.«[53] Neue Märkte führen dann zu neuen Formen der industriellen Organisation.
Diese Aussage von Schumpeter scheint sich durch den neuen Hype um Künstliche Intelligenz zu bestätigen. Die schöpferische Zerstörung rüttelt den Arbeitsmarkt durcheinander, die Angst vor Jobverlust und, ganz generell, davor, abgehängt zu werden, wird konkret, die Prognosen und Studien überschlagen sich derzeit.[54]
Die ständig neue Zerstörung des Alten führt nach Schumpeter dazu, den Kapitalismus zu regulieren. Dies soll durch die Zähmung der technischen Maschinerie und deren Einsatz geschehen. Der AI-Act der Europäischen Kommission kann als Versuch in diese Richtung gedeutet werden.
Mag die schöpferische Zerstörung wirtschaftlich interessant sein und auch funktionieren, rein technisch und organisatorisch gesehen, sind die Entstehungs- und Ersetzungsprozesse hingegen eher inkrementell und meist mit parallel existierenden Technologien verbunden. Beispiele gibt es genug: analog und digital, erneuerbare Energien und fossile Energien, Künstliche Intelligenz und herkömmliche Automatisierung. Das bedeutet, dass selbst auf der deskriptiven Ebene kaum von Disruption, sondern lediglich von einem überlappenden Kommen und Gehen von Technologien gesprochen werden müsste.
Das Gerede über Disruption und schöpferische Zerstörung wirkt politisch desorientierend und soll es wohl auch. Denn dieses Gerede wird nicht nur bei Technologien oder industriellen Prozessen verwendet, sondern auch auf die politische Ebene ausgedehnt. Dort bekommt es einen populistischen Ton des Endlich-mal-Aufräumens und der Verheißung des Endes einer durch und durch lästigen Komplexität. Dies treibt die Leute politisch in die Arme von Demagogen, die scheinbar einfache Lösung wie Maschinensteuern, Protektionismus und Einwanderungsstopp vorschlagen. Wenn nun nach Daub die schöpferische Zerstörung den marxschen Begriff der Revolution nicht nur durch Gerede, sondern auch durch eine fachlich-ökonomische Verbesserung als kontinuierlichen Prozess sozusagen sublimiert,[55] dann könnten diese Verbesserungen gleiche Bedingungen für alle schaffen. Damit fielen die marxschen Bedingungen für eine Revolution wiederum weg, indem diese Verbesserungen den Rückgang der Profitrate und damit eine Monopolisierung verhindern könnten. Ob man diese Sichtweise von Daub teilt, hängt wohl davon ab, welche Kapitalismustheorie man vertritt. Das Gerede von der Disruption hingegen möchte uns hingegen weismachen, dass nach den Stromschnellen der schöpferischen Zerstörung kein ruhiges Gewässer mehr kommt, sondern dass das ganze Gewässer nur noch aus Stromschnellen besteht.[56]
- [39] Daub (2020), S. 116.
- [40] Daub (2020), S. 116.
- [41] Daub (2020), S. 117.
- [42] Daub (2020), S. 120.
- [43] Daub (2020), S. 120, bezieht sich auf Gans (2016).
- [44] Ibid.
- [45] Für den Produktionsbereich siehe Womack et al. (1990). Als allgemeines Prinzip siehe Saito (2023).
- [46] Als Beispiel für solche propagierten Fähigkeiten könnte man die Entwicklung der Kunst des guten Promptings (Eingabe bei Frage oder Problemstellung) bei den Large Language Models und der Generativen KI nennen.
- [47] Schon früh Burmeister, Steinhilper (2011).
- [48] Janik (2024).
- [49] Marx, Engels: Manifest … In: Marx, Engels (1959), MEW 4, S. 465.
- [50] Daub (2020), S. 122.
- [51] Schumpeter (1911).
- [52] Daub (2020), S. 123.
- [53] Schumpeter (1987), S. 137, zit. nach Daub (2020), S. 123.
- [54] Studien wie McKinsey & Company (2023); Hazan (2024).
- [55] Daub (2020), S. 124.
- [56] Daub (2020), S. 125.