Kreativität als rhetorische Praxis
Unter dem Stichwort Kreativität als rhetorische Praxis will ich nun versuchen, ein drittes Verständnis von Kreativität vorzustellen. Wie wir gesehen haben bezeichnete Kreativität als Zuschreibungspraxis einen Aspekt des Ethos, bei dem es darum geht, als kreativ von einem Publikum anerkannt zu werden, wobei daraufhin eine Kreativitätstechnik als die Kunst, diese Zuschreibungspraxis zu steuern, verstanden werden konnte. Kreativität im zweiten Sinne als Erkenntnisinstrument zu verstehen meinte demgegenüber, selbige als Eigenschaft eines Individuums zu bestimmen, das aufgrund devianter semantischer Identifikationen Bedeutungen generiert – und bisweilen sogar in einem gewissen Sinne »neue« kreiert. Kreativitätstechniken im zweiten Sinne sind demnach Techniken des Witzes und der semantischen Identifikation. Die Ergebnisse dieser Techniken sind allerdings nicht an ein bestimmtes Akzeptanzkriterium gebunden, berücksichtigen also allein die ars inveniendi und weder das innere noch das äußere aptum. Demnach lässt sich etwas, das schließlich durch ein bestimmtes Publikum als Unfug oder Unsinn eingestuft wird, nicht als unkreativ ausschließen. Unfug und Unsinn kann durchaus kreativ sein – immerhin erscheint Kreativität oftmals als nichts anderes als die positive Seite des Unsinns. Unsinn ist aber als Unsinn nicht überzeugend. Offen bleibt durch diese beiden Bestimmungen allerdings das weite Feld der rhetorischen Situationen, in denen etwas einem Publikum präsentiert wird, was auf der Grundlage einer ars inveniendi gefunden wurde – und womöglich durchaus den Anspruch stellen könnte »neu« zu sein, ihn aber gerade – letztlich auch aus rhetorischen Gründen – nicht stellt. Wer sich beispielsweise den mittelalterlichen Umgang mit der auctoritas ansieht, kann mit Eco schließen: »Der mittelalterliche Gelehrte tut immer so, als habe er überhaupt nichts Neues erfunden oder entdeckt, und beruft sich ständig auf frühere Autoritäten. Es können die Patres der Ostkirche sein, es können Augustinus, Aristoteles oder die Heilige Schrift sein oder auch Gelehrte, die kaum hundert Jahre alt sind, aber nie darf er etwas Neues vorbringen, ohne es hinzustellen als etwas, das schon vor ihm jemand gesagt hat.«[18] Insofern es eine der Stärken der Rhetorik ist, Neues und Unvertrautes, ja Unerhörtes, so vermitteln zu können, dass das Publikum glauben mag es sei aus ihren bereits bestehenden Meinungen – man kann fast sagen – »deduziert« worden, insofern stellt es eben auch eine der Stärken der Rhetorik dar, kreative Akte (im zweiten Sinne von Kreativität) nicht unbedingt zum Anlass von Kreativitätszuschreibungen werden zu lassen. In diesem Sinne bleibt die Kreativität für das Publikum unentdeckt und kann allenfalls durch eine genaue historische, rhetorische und womöglich philosophische Analyse im Nachhinein herausgestellt werden. In diesem Sinne ist dieser Umgang mit Kreativität in einem zweifach-doppelten Sinne rhetorisch: Zum einen ist sie die Grundlage des erfolgreichen Orators, zum andern der Gegenstand glücklicher Findungen innerhalb der Rhetoriktheorie. Auf der anderen Seite ist sie aber auch doppelt rhetorisch in dem Sinne, dass es zum einen einer Kreativität im Sinne der Erkenntnisfunktion bedarf, um neue Ideen zu finden. Zum anderen bedarf es aber auch einer kreativen Findungskunst, um die Argumentationsgänge und Anknüpfungspunkte zu finden, die es erlauben, die kreative, mithin rhetorische Kunst zu verbergen oder zumindest – in einem schwächeren Sinne – es dem Orator erlauben, rhetorische Mittel zu finden, um das Neue – und als das Neue eben auch eher Unglaubwürdige – glaubwürdig darstellen zu können, was gerade heißen kann, es eben nicht als Neues darzustellen.
Obgleich diese dritte Form von Kreativität ganz offensichtlich auf der zweiten fußt, geht sie doch insofern über diese hinaus, als hier die ars iudicandi ebenso wie das aptum miteinbezogen werden muss. Ganz im Sinne Burkes, der sagt: “You persuade a man only insofar as you can talk his language by speech, gesture, tonality, order, image, attitude, idea, identifying your ways with his.”[19] Es geht hier also darum, Identifikationsmöglichkeiten für das Publikum zu suchen, zu finden und zu präsentieren. Diese sind vor allem vor dem Hintergrund wichtig, als das »Neue« per se nicht zur Identifikation einlädt. Der kreative Akt besteht bei diesem dritten Kreativitätsverständnis also weniger darin, etwas Neues zu finden, als darin, die Anknüpfungspunkte zu finden, so dass das Neue in der Sprache des Bekannten und in Herleitung aus Vertrautem ausgedrückt werden kann, kurz: Es werden Mittel gesucht und gefunden, dem Publikum die Identifikation mit dem Neuen zu erleichtern. Eine mögliche Technik dies zu erreichen ist der schon erwähnte Rückgriff auf die auctoritas, die bisweilen, wie Alain de Lille im 12. Jh. feststellt, »eine Nase aus Wachs [hat], die man nach Belieben verformen kann«[20].
Kreativitätstechnik meint hiernach eine Methode zum systematischen Auffinden möglicher Identifikationsangebote um Neues so an Vertrautes zu binden, dass der Widerstand gegen das Neue durch den Rückgriff auf Vertrautes gebrochen werden kann, oder besser noch: gar nicht erst aufkommt. Insofern es alle rhetorischen Bemühungen auszeichnet, eine Identifikation des Orators mit dem Publikum und umgekehrt zu ermöglichen, bezeichnet diese dritte Form der Kreativitätstechnik das Kerngeschäft der Rhetorik überhaupt. Gerade im Fall echter Innovation wird ein marktschreierisches Ankündigen einer »Weltneuheit« oder »Marktneuheit« wenig erfolgreich sein – wie dies oft bei wenig innovativen Scheinentwicklungen im Bereich des genus humile, etwa bei Waschmittel, passiert. Vielmehr setzt das kreative Finden echter Innovationen in der rhetorischen Vermittlungspraxis auch das Finden von Vermittlungsstrategien voraus, die den innovativen Charakter der Entwicklung zwar nicht leugnen müssen, aber eben auch nicht überbetonen. Oder anders gesagt: Diese dritte Form von Kreativität setzt voraus, dass Innovation als Mittel betrachtet wird um ein bestimmtes Redeziel zu erreichen, und eben nicht als Ziel der Rede selbst. Am Ende soll nicht der Innovator gefeiert werden noch die Neuheit seiner Ideen, sondern die Ideen stehen, aufgrund ihres Potentials zur Weiterentwicklung bereits bekannter Ideen, im Mittelpunkt.