Essay

Künstliche Intelligenz ist (k)eine Naturgewalt

Über gestalterische Subjekte und neue Utopien

Von Alicia Sommerfeld


In Dave Eggers bekann­tem dys­to­pi­schen Roman The Cir­cle (2013) wird gesell­schaft­li­che Wirk­lich­keit im Wesent­li­chen durch den gleich­na­mi­gen Tech-Kon­zern Cir­cle geprägt. Die Welt in Eggers Roman wird zu einer voll­kom­men in Nul­len und Ein­sen auf­ge­hen­den Rechen­ein­heit, die Mit­ar­bei­ter des Kon­zerns wer­den 24 Stun­den am Tag über­wacht; Trans­pa­renz ist das Ide­al. Das Pri­va­te, als klan­des­ti­ne Keim­zel­le unlau­te­rer Machen­schaf­ten, soll voll­stän­dig abge­schafft wer­den. Prot­ago­nis­tin Mae hin­ter­fragt die­se Ideo­lo­gie nicht und wird schließ­lich zum ersetz­ba­ren Räd­chen im Getrie­be einer schier über­mäch­ti­gen Maschi­ne­rie, für die sie die­je­ni­gen opfert, die sich die­ser Ideo­lo­gie ent­ge­gen­stel­len wollen.

Eggers Kri­tik liegt auf der Hand: Auch wir lau­fen Gefahr, wie Mae zu den Mario­net­ten der Sili­con-Val­ley-Kon­zer­ne zu dege­ne­rie­ren, deren Wer­te­sys­tem sich schlei­chend, im Gewand prak­ti­scher und schein­bar lebens­er­leich­tern­der Tech­no­lo­gien immer stär­ker aus­brei­tet – bis es viel­leicht zu spät ist. Anders als in The Cir­cle lässt sich jedoch nicht der eine Mega-Kon­zern als Schul­di­ger aus­ma­chen, gegen den sich folg­lich auch – zumin­dest in der Theo­rie – vor­ge­hen lie­ße. Tech­no­lo­gien ent­ste­hen nicht im luft­lee­ren Raum, son­dern stets in einem kom­ple­xen kul­tu­rel­len Sinn­ge­flecht, beein­flus­sen Kul­tur eben­so, wie Kul­tur Tech­no­lo­gie beein­flusst. Die Ideo­lo­gien, Impe­ra­ti­ve und Grund­an­nah­men, die mit den Tech­no­lo­gien ein­her­ge­hen, sind his­to­risch gewach­sen, wer­den durch ver­schie­de­ne Dis­kurs­teil­neh­mer aktua­li­siert und repro­du­ziert, und sind deut­lich schwie­ri­ger auf­zu­spü­ren als das Mis­si­on State­ment eines Kon­zerns. Im Fol­gen­den[1] soll es um die gesell­schaft­li­chen Selbst­be­ob­ach­tun­gen im Hin­blick auf die der­zeit ver­mut­lich bedeut­sams­te Tech­no­lo­gie gehen: Künst­li­che-Intel­li­genz-Sys­te­me. Dabei wird auch die Fra­ge eine Rol­le spie­len, was es für einen infor­mier­ten Umgang mit die­sen Tech­no­lo­gien braucht, um als Kol­lek­tiv nach uto­pi­schen Leer­stel­len suchen und gesell­schaft­li­che Wirk­lich­keit anders den­ken sowie gestal­ten zu können.

KI und die Geis­tes-, Sozi­al- und Kulturwissenschaften

In den Kul­tur­wis­sen­schaf­ten herrscht Kon­sens dar­über, dass es wün­schens­wert ist, den Gra­ben zwi­schen den »zwei Kul­tu­ren« (Snow) Natur­wis­sen­schaf­ten und Kul­tur­wis­sen­schaf­ten zu über­win­den und auf die­sem Wege die kom­ple­xen Fra­ge­stel­lun­gen unse­rer Gegen­wart bes­ser beleuch­ten zu kön­nen. Wenn kul­tur­wis­sen­schaft­lich For­schen­de sich mit KI beschäf­ti­gen wol­len, bege­ben sie sich ganz auto­ma­tisch in ein »fach­frem­des« Gebiet – hat KI sei­ne Ursprün­ge doch in den MINT-Fächern und han­delt es sich dabei doch um einen Gegen­stand, für des­sen prak­ti­sches Ver­ständ­nis ein hohes Maß an Infor­ma­tik- und Mathe­ma­tik-Kennt­nis­sen gefor­dert ist. Defi­ni­to­ri­sche Grenz­zie­hun­gen sind dabei stets Bedeu­tungs­kämp­fe, bei denen uns die Gren­ze und ihr Jen­seits womög­lich mehr über einen Gegen­stand ver­ra­ten als das, was die Gren­ze umschließt. Bei Künst­li­cher Intel­li­genz (KI) lässt sich im Hin­blick auf die Arbeit am Begriff feststellen:

1. Künst­li­che Intel­li­genz ist ein, auch in den MINT-Fächern, umstrit­te­ner vager Dach­be­griff, der im Dis­kurs zumeist auf die Tech­no­lo­gie des Deep Lear­ning ver­kürzt wird und gera­de in den Kul­tur­wis­sen­schaf­ten anhand der Figur des Algo­rith­mus erforscht wird.[2]

2. Die kul­tur­wis­sen­schaft­li­che KI-For­schung hat in den MINT-Fächern ein Akzep­tanz-Pro­blem, inso­fern ihr vor­ge­wor­fen wird, Begrif­fe zu weit zu den­ken und sie damit zu ver­wäs­sern.[3]

3. Die kul­tur­wis­sen­schaft­li­che KI-For­schung hat ein Wahr­neh­mungs­pro­blem, wenn Stim­men aus den MINT-Fächern laut wer­den, die nach der Erfor­schung von KI mit ihren gesell­schaft­li­chen Ver­stri­ckun­gen ver­lan­gen und dabei einen eta­blier­ten kul­tur­wis­sen­schaft­li­chen For­schungs­strang igno­rie­ren, der genau dies bereits seit Jah­ren tu (vgl. Moats/Seaver 2019).

4. Auch inner­halb der Kul­tur­wis­sen­schaf­ten gibt es einen Bedeu­tungs­kampf um die ange­mes­se­ne Beschäf­ti­gung mit KI, inso­fern der kri­ti­schen kul­tur­wis­sen­schaft­li­chen For­schung vor­ge­wor­fen wird, eine Erzäh­lung von einer gefähr­li­chen und Kul­tur äußer­li­chen Tech­no­lo­gie zu repro­du­zie­ren, die nur fin­det, was sie von vorn­her­ein zu fin­den gedenkt (vgl. dazu insb. Beer 2017; Gil­le­spie 2017).[4]

Die ver­schie­de­nen inter­dis­zi­pli­nä­ren Sicht­wei­sen auf KI und die mit ihnen ver­bun­de­nen Bedeu­tungs­kämp­fe kon­so­li­die­rend, schla­ge ich vor, Künst­li­che Intel­li­genz als schon immer Kul­tu­rel­les zu begrei­fen, das sich klein­tei­lig tech­nisch erfor­schen und anwen­den lässt, jedoch immer auch kul­tu­rel­le Effek­te zei­tigt und somit auch die Geis­tes- und Kul­tur­wis­sen­schaf­ten etwas angeht. Die­se Effek­te las­sen die Tech­no­lo­gie aus dem kul­tu­rel­len Gesamt­ge­flecht als das Beson­de­re, mit­un­ter das Frem­de, her­vor­tre­ten und zum Gegen­stand öffent­li­cher Dis­kur­se wer­den, deren Unter­su­chung von beson­de­rer Bedeu­tung für ein tie­fe­res Ver­ständ­nis gegen­wär­ti­ger gesell­schaft­li­cher Wirk­lich­keit ist.