Auf der Suche nach dem utopisch Unabgegoltenen – Algorithmic Literacy und die Rhetorik
Mit Bloch sind die enttäuschten Hoffnungen der Vergangenheit, wie es Francesca Vidal (2022, 132) formuliert, nicht gegen die Hoffnung, sondern mit der Hoffnung zu denken. Die Geschichte lässt Leerräume offen, in die sich neue Gesellschaftsentwürfe, utopische Gegenentwürfe einfügen können. In der Vergangenheit sind wir vielleicht gescheitert, aber dafür zeigt uns unser Scheitern, was noch möglich ist und beim nächsten Mal funktionieren könnte. Bezogen auf Künstliche Intelligenz lässt sich feststellen, dass sich die großen Erwartungen, die allgemein an das Internet geknüpft waren – Erwartungen von demokratischer Teilhabe, Gestaltung, Emanzipation – kaum erfüllt haben. Stattdessen reden wir – gerade auch in der kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit KI – vor allem über Überwachung, Black Boxen, Filterblasen oder algorithmusbasierte Formen von Diskriminierung. In der Popkultur muss man lange suchen, um auf utopische Szenarien der KI-Welt von Morgen zu stoßen, Dystopien dagegen existieren zuhauf, und sie beeinflussen konkret unser Erleben der Technologie als Unheimliches, Bedrohliches und Unkontrollierbares, das sich womöglich eines Tages gegen seinen eigenen Schöpfer, den Menschen, wendet. Dazu kommen Zeitungsberichte, in denen KI-Systeme vorwiegend als anthropomorphe Roboter dargestellt werden, in denen vermenschlichende, vereinfachende Beschreibungen an der Tagesordnung sind und in denen KI mindestens skeptisch, meistens besorgt betrachtet wird. Damit erscheint das Unausweichliche – dass die KI-Technologien sich weiter verbreiten – als das unausweichlich Schlimme. Nun nach dem utopisch Unabgegoltenen Ausschau zu halten, heißt einerseits, das dystopisch Unabgegoltene zu verhindern, gleichsam aber kreativ nach dem Wie des Gestaltens zu fragen und das Kritische und Bedrohliche – das uns in vielerlei Hinsicht in der Tat besorgen sollte – einzubeziehen, jedoch nicht absolut zu setzen. Dafür bedarf es engagierter Bürgerinnen und Bürger, die sich informiert in die Debatten um die Technologien einbringen. Als Gesellschaft täten wir gut daran, eine Algorithmic oder AI Literacy dabei nicht nur als das Erlernen von (messbaren) technischen Kompetenzen zu konzipieren, sondern uns an das Redner-Ideal der Rhetorik zu erinnern, der es immer auch um Emanzipationsfähigkeit, Humanismus und Gestaltung zu tun ist. Durch ein Umdenken bei KI könnten wir Eggersche Szenarien vielleicht vermeiden – und uns statt an Mae vielleicht wieder mehr an Brecht orientieren.
Quellen
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