4 Die fehlgeleitete Annahme von der Funktionslosigkeit der Kunst
Ich halte es daher für wichtig, zu demonstrieren, dass unsere gewöhnlichen, weit verbreiteten Praktiken der Unterscheidung von Kunst und Design hinsichtlich von Funktionalismus und Kunstautonomie nicht korrekt sind. Der Grund hierfür ist, wie ich bereits angedeutet hatte, der, dass auch die Kunst Funktionen erfüllt und Funktionen gerade auch bei Kunstwerken den kunstästhetischen Wert, der im Hinblick auf eine Zuordnung von Kunst als Kunst relevant ist, maßgeblich beeinflussen. Ich werde deshalb nun näher explizieren, dass und inwiefern sich der Wert von Kunst im Hinblick auf Funktionen erschließt.
Werfen wir in diesem Zusammenhang aber zunächst noch einen Blick auf die Frage, inwiefern der Kunst Autonomie zukommt: Autonomie konnte die Kunst im Rahmen der letzten Jahrhunderte in der Tat dadurch erlangen, dass sie sich von vielerlei Instrumentalisierungen befreit hat, man denke beispielsweise an die Loslösung von klerikalen Normvorgaben, an gewonnene rechtliche, aber auch wirtschaftliche Unabhängigkeiten und an die Meinungsfreiheit im Allgemeinen. Doch diese Freiheiten von Künstlern sprechen nicht schon gleich gegen die Möglichkeit, dass Kunstwerke Funktionen erfüllen können. Ganz im Gegenteil, sofern ein Künstler frei ist, ist er doch auch frei, seine Kunst bestimmten Zwecken unterzuordnen. In diesem Sinne verstehe ich die Autonomie der Kunst als die Freiheit zu entscheiden, welchen Zwecken man sich als Künstler im Schaffensprozess unterwirft. Die Freiheit des Künstlers ist in diesem Verständnis im Prinzip der Eigengesetzgebung fundiert. Solch eine Autonomie steht dem Prinzip der Funktionshaftigkeit von Kunstartefakten nicht entgegen.[6]
Empirisch betrachtet, übernehmen Kunstwerke in unserer heutigen Gesellschaft zahlreiche Funktionen, und in vielen Fällen wurden diese auch von den Künstlern so intendiert: Sie beginnen bei der grundsätzlichen Funktion, ästhetische Erfahrungen beim Rezipienten hervorzurufen, man sollte diese Funktion im Falle von Kunstwerken als spezifisch »kunstästhetische Funktion«[7] bezeichnen. Denn prinzipiell wäre es zwar denkbar, dass Rezipienten im Umgang mit Kunstwerken auch reine ästhetische Erfahrung machten, welche tatsächlich als funktionsfrei verstanden werden könnten, wenn der Sinn und Zweck dieser Erfahrung nämlich wirklich in sich selbst begründet läge. Martin Seel spricht in diesem Zusammenhang von der »vollzugsorientierten« ästhetischen Wahrnehmung.[8] Solche ästhetischen Erfahrungen haben allerdings nichts zu tun mit der Fähigkeit ästhetisch relevante Artefakte als Kunstobjekte von anderen Artefakten wie Designgegenständen zu unterscheiden. Wie ich bereits zu Beginn meiner Ausführungen bemerkt hatte, kann man ein Kunstwerk nämlich nur als Kunst begreifen und differenzieren, wenn es hinsichtlich seines möglichen kunstästhetischen Gesamtwerts wahrgenommen wird, wobei festgestellt werden muss, dass zumindest ein Teil dieses Werts in der funktionalen Rolle von Kunst fundiert ist. Aus diesem Grund spricht Schmücker m. E. spezifisch von der »kunstästhetischen Funktion«, und aus genau diesem Grunde ist es auch wichtig darzulegen, welche Funktionen Kunst weiterhin erfüllen kann:
Kunstwerke können Ansichten von Personen oder Informationen übermitteln, sie können zum Nachdenken anregen und den Menschen emotional ansprechen. Im Kontext ihrer Fähigkeit den Menschen in seiner kognitiven und/oder emotiven Dimension zu engagieren, verfügen sie zudem über erzieherische, religiöse, ökonomische, therapeutische, moralische und politische Funktionen und viele mehr. [9] Nehmen wir zur Veranschaulichung noch einmal die Arbeit »Fountain« von Duchamp. Als Kunstartefakt ist es deshalb von einem Gebrauchsgegenstand unterscheidbar, weil es außerdem, anders als das Gebrauchsobjekt, die Funktionen erfüllt, seinen Rezipienten kognitiv und emotiv zu engagieren. Dies tut das Artefakt, indem es seinen Rezipienten sozusagen dazu auffordert, sein Wissen über kunststilistische Konventionen und Kunsthistorie in Anschlag zu bringen, um das Objekt weiterhin als ungewöhnlich, provokant und vulgär empfinden zu können. Es ist kaum vorstellbar, dass Kunstwerke entgegen dieser gängigen Praxis keinerlei Funktionen aufweisen könnten und sicherlich wäre es auch nicht wünschenswert. Denn als Teil des Gesamtwerts von Kunst-Artefakten prägen Funktionen unsere Wertschätzung von Kunst maßgeblich.[10] Es sind sozusagen auch die Funktionen von Kunstwerken, die das wahre Interesse des Menschen an ihnen begründen[11], und sofern dem so ist, wird es ohne eine Berücksichtigung dieser Funktion für einen Rezipienten auch nicht möglich werden, zwischen Kunst und anderen Artefakten zu unterscheiden.
Ich möchte noch darauf hinweisen, dass die Kunst über die bisher genannten Funktionen hinaus selbstverständlich auch ganz pragmatische Zwecke erfüllen kann, beispielsweise wenn sie als Geldanlage dienen soll, was häufig der Fall ist, oder wenn sie zum Zwecke der Dekoration eingesetzt wird. Pragmatische Faktoren wie diese jedoch sind nicht unmittelbar mit der Realisierung und daher auch nicht mit dem künstlerischen Wert eines Kunstartefakts verbunden.
Aus den vorangegangenen Überlegungen muss man nun schließen, dass das für eine Differenzierung ästhetisch bedeutsamer Artefakte bzw. von Kunst- und Designartefakten ausschlaggebende Kriterium nicht die Funktionalität in jener Form sein kann, wie sie nur im Bereich des Designs, nicht aber auch in der Kunst in ästhetischer Hinsicht Berücksichtigung findet. Kunstgegenstände erfüllen genauso Funktionsmerkmale, wie es von Designgegenständen behauptet wird, und diese Funktionen sind in ihrem Einfluss auf den Wert von Kunstwerken genauso relevant wie Funktionen ähnlicher Art in der »designästhetischen« Wahrnehmung und Beurteilung. Aus diesem Grunde plädiere ich dafür, die Funktionsthese, d. h. den Funktionalismus als Alleinstellungsmerkmal des Designs und auch die Autonomiethese in ihrer anfänglich deutlich gemachten Variante (nicht als »Eigengesetzgebung«!) zu verabschieden und die ursprüngliche Frage nach dem Differenzierungsmerkmal als eine Frage nach dem Unterschied im beiderseits zur Anwendung kommenden Funktionsbegriff neu zu stellen.
- [6] vgl. Schmücker, Reinhold: Lob der Kunst als Zeug. In: Feige, Daniel; Köppe, Tillmann; zur Nieden, Gesa (Hg.): Funktionen von Kunst. Frankfurt 2009. S. 19.
- [7] a. a. O., S. 26.
- [8] vgl. Seel, Martin: Ethisch-Ästhetische Studien, Frankfurt 1996. S. 48ff.
- [9] vgl. Schellekens, Elisabeth: Aesthetics and Morality. London, New York 2007. S. 33.
- [10] vgl. Bahr, Amrei: Funktionen der Kunst. 2012. http://www.kubi-online.de/artikel/funktionen-kunst (Abruf 20.09.2014).
- [11] vgl. Schmücker, Reinhold: Funktionen der Kunst. In: Kleimann, Bernd; Schmücker, Reinhold (Hg.): Wozu Kunst? Die Frage nach ihrer Funktion. Darmstadt 2001.