Die moderne kunsttheoretische Unterscheidung zwischen den Medien, die Abkehr von den gemeinsamen didaktischen Regeltraditionen sowie die daraus resultierende disziplinäre Ausdifferenzierung erschweren die Begründung einer zeitgenössischen visuellen Rhetorik auf den vereinten Grundlagen der Bild- und Redekünste, der Bild- und Textwissenschaften.[6] Um diese Hindernisse zugunsten einer universellen Theorie zu überwinden, ist deshalb die von Nadia J. Koch vorgeschlagene Rückbesinnung auf klassische, sophistische Kunstvorstellungen und die mit der techne verbundenen Analogien zwischen den visuellen Künsten und der Rhetorik sehr fruchtbar. Daraus lässt sich ein holistisches Verständnis von Rhetorik gewinnen, das Rede und Bild gleichermaßen integriert. Besondere Bedeutung erlangt dabei die Persuasion als oberstes rhetorisches Ziel nicht nur der überzeugenden Rede, sondern auch des ansprechenden Bildkunstwerks, das nach sophistischer Auffassung Farbgebung und Figurentypen (chrômata, schêmata) als Überzeugungsmittel verwendet. Während die Persuasion einer Rede gemeinhin in argumentativer, meinungsbildender oder zur Handlung anregender Absicht auf den Rezipienten zielt, sind solche Zwecke für Bildkunstwerke jedoch schwieriger nachzuweisen. Hier scheint die Überzeugung eher in einer positiven Eigenwirkung, in der Vereinnahmung für das Kunstwerk selbst zu bestehen. Es stellt sich dann jedoch die Frage, wie sich diese rhetorische Funktion der Persuasion zur allgemein ästhetischen Rezeption verhält: Fasst man – neuzeitlich gedacht – die ästhetische Wirkung des Schönen mit Kant als »interesseloses Wohlgefallen«[7] auf, ergibt sich womöglich eine kategoriale Überschneidung mit der rhetorischen Persuasion. Unentscheidbar wäre dann, ob das Gefallen am Bildkunstwerk seiner rhetorischen Überzeugungskraft oder seinen ästhetischen Qualitäten zuzuschreiben ist.
Zum Schluss möchte ich einen zusätzlichen Ansatzpunkt für die visuelle Rhetorik zur Diskussion stellen: Ein Gegenstand, der sich von vornherein für diesen Zugang anbietet, ist die Schrift selbst, insofern sie Sprache visuell vermittelt und somit die beiden Komponenten der Visualität und Rhetorizität immer schon vereint. Aus schrifthistorischer Perspektive ist damit sogar eine Erweiterung des Zeitraums möglich, der für die visuelle Rhetorik als theoretische Grundlage wie als praktisches Untersuchungsgebiet fruchtbar gemacht werden kann. Denn die Geschichte der Bilderschrift geht deutlich über die Sophistik hinaus bis hin zur vorklassischen Antike: Bevor um 1000 v. u. Z. die noch heute genutzten Alphabetschriften entstanden, beruhten die frühesten Schriftsysteme vor allem auf bildlichen Referenzen zu den Gegenständen, die sie bezeichnen – beispielsweise die ägyptischen Hieroglyphen oder die phönizische Schrift. Darüber hinaus kommen in diesem Zusammenhang die vieltradierten und in zahlreichen alten und neuen Kulturen anzutreffenden Kunstformen in den Blick, die aus der Kombination von Text und Bild hervorgehen, etwa Bildgedichte oder Diagramme. Und zuletzt eröffnet die Materialität von Schriftträgern eine Perspektive, in der Text- und Buchgestaltung als Elemente der elocutio aufgefasst werden. Das angemessene, ansprechende, gelungene Schriftbild wird auf diese Weise Teil der rhetorischen Persuasionsstrategien eines Texts. Schriftbildlichkeit verweist – schon dem Namen nach – nicht nur auf die Analogie, sondern auf eine mögliche Identität von Schrift und Bild.
Die klassische Rhetorik setzt ihren Schwerpunkt auf dem gesprochenen Wort, auf der Rede. Wenn eine u. a. auf der sophistischen Kunsttheorie begründete und für die Phänomene der Schriftbildlichkeit sensibilisierte visuelle Rhetorik dieses phonozentristische Paradigma zu unterlaufen und neue Gegenstände für die rhetorische Analyse zu erschließen vermöchte, wäre dies ein großes Verdienst dieses jungen, intermedialen und interdisziplinären Fachgebiets.
- [6] Dass sich Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft – trotz Lessing – auch zuvor gegenseitig konzeptionell befruchtet haben (insbesondere bei gemeinsamen rhetorischen Gegenständen), ist selbstverständlich und wird illustriert z. B. durch die Übernahme des von Aby Warburg geprägten Begriffs der »Pathosformel« durch Ernst Robert Curtius (vgl. z. B. ders: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern 1948. S. 145 und 207). Der Begriff »Pathosformel« spielt auch in der zeitgenössischen Bildrhetorik noch eine Rolle (vgl. Knape, Joachim: Bildtextualität, Narrativität und Pathosformel. Überlegungen zur Bildrhetorik. In: Schöner, Petra; Hübner, Gert (Hg.): Artium conjunctio. Kulturwissenschaft und Frühneuzeitforschung. Aufsätze für Dieter Wuttke. Baden-Baden 2013, S. 297—334.).
- [7] vgl. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. In: ders.: Werkausgabe, Bd. 10. Frankfurt am Main 1981(5). §2, S.116f.