Ihre Ähnlichkeit kommt in einer starken erzählerischen Parallelität zu Ausdruck. Darüber hinaus verbindet die beiden Männer ein gemeinsamer Konflikt. Beide Protagonisten leiden unter Knieschmerzen, die der Zuschauer am Ende des Spots auf das häufige Beten in knieender Haltung zurückführen kann. Dieser Konflikt wird mit freundlicher Unterstützung von Amazon im Laufe der Handlung überwunden, erzählerisch verpackt wie folgt: Um dem Freund etwas Gutes zu tun, kommen beide Männer unabhängig voneinander auf die Idee, dem jeweils anderen über Amazon Kniebandagen zukommen zu lassen. Auch hier tritt das Motiv der Parallelität auf. Am Ende der Geschichte knien sich beide Männer – mit Kniebandagen und somit ohne Schmerzen – hin, um zu beten. Auf diese Weise inszeniert sich die Marke auch in diesem Beispiel als Problemlöser. Der virale Erfolg des Spots gründet jedoch darauf, dass das Unternehmen mit dieser Parabel darüber hinaus ein »Glaubensbekenntnis« für Toleranz und Akzeptanz ablegt.
Marken beziehen zunehmend Standpunkte innerhalb gesellschaftlicher Diskurse um ihr Image zu steuern. Anlass zu diesem Spot im speziellen dürfte ohne Zweifel die zunehmende Anzahl religiös-motivierter Terroranschläge in Europa sein. Ein gesellschaftliches Thema mit Resonanz, die sich in Gefühlen wie Unsicherheit und Entfremdung ausdrückt. Auf dieses Unbehagen reagiert Amazon in Form des TV-Spots und spricht damit die Sorgen vieler Menschen an. Mit seiner Geschichte plädiert das Unternehmen für ein friedvolles Zusammenleben von Menschen verschiedener Herkunft, Kultur und Glaubensrichtung und beweist zugleich, dass dies möglich ist. Ganz im Sinne des weihnachtlichen Gedankens, der Nächstenliebe.
Die Wahrscheinlichkeit, dass der Aufruf – unterschiedliche Lebensweisen, Ansichten und Haltungen zu tolerieren – auf offene Ohren stößt, ist in der westlichen Welt vergleichsweise hoch. Somit ist das Risiko, mit dieser Aussage dem Image der Marke zu Schaden, gering – im Gegenteil. Sich für das gesellschaftliche Wohl einzusetzen, scheint derzeit der beste Weg, das Image zu stärken. Aber wer hat eigentlich gesagt, dass man seinen Worten Taten folgen lassen muss? Ein Lippenbekenntnis scheint zu genügen. Denn abgesehen von der Botschaft ihres TV-Spots war Amazon nicht dafür in der Presse präsent, dass es tatsächlich aktiv etwas für die angepriesenen Werte getan hat. Das hat dem Erfolg dieser Kommunikationsmaßnahme jedoch keinen Abbruch getan, nicht zuletzt, weil sie die richtigen Emotionen angesprochen hat.
Das höchste der Gefühle: Das persuasive Potential der Erzählung
Mit Erzählungen lassen sich nicht nur Informationen vermitteln, sondern in diesem Zuge auch Emotionen im Rezipienten auslösen. Durch diese emotionale Komponente sind sie in der Lage, die Energie der Zuhörer zu entfachen, wie es eine rein faktenbasierte Argumentation nicht vermag.[28] Die hohe virale Resonanz zu dem Amazon Prime TV-Spot spiegelt die aktivierende Wirkung wider, die Geschichten haben können. McKee ist deshalb der Ansicht, dass die Persuasion durch Geschichten effektiver ist als die Persuasion durch Fakten. Zumal laut seiner Erfahrung letztere schnell in Fachchinesisch abzudriften droht.[29]
In Anbetracht der Tatsache, dass beim Einsatz von Geschichten zur Unternehmenskommunikation verstärkt über Emotionen argumentiert wird, die vom Gehirn nicht kognitiv verarbeitet werden, drängt sich die Frage auf, ob der Betrachter manipuliert wird. Auch Autoren beschäftigen sich mit der Frage, ob das Erzählen von Geschichten einen manipulativen Aspekt beinhaltet. Stein schreibt beispielsweise: »Die Gefühle des Publikums zu wecken, hat das nicht auch einen unangenehmen Beigeschmack? Es kennzeichnet einige der größten Verbrecher unseres Jahrhunderts, daß sie Menschen in ihren Bann gezogen haben, indem sie ihre Gefühle manipulierten.«[30] McKee verweist darauf, dass bereits der griechische Philosoph Platon behauptete, Geschichtenerzähler seien gefährliche Leute.[31] Die Frage, ob es sich bei Storytelling um Manipulation handele, verneint er jedoch. Es sei legitim, eine »truthful Story« zu erzählen, um Menschen von der eigenen Sache zu überzeugen.[32] Das entscheidende Wort in diesem Zusammenhang dürfte das Wort »aufrichtig« sein. Wie man dieses facettenreiche Wort auslegt, scheint dagegen jedem selbst überlassen. Es mag aber etwas dran sein an der Platon zugeschriebenen These: “Those who tell the Stories rule society.”
- [28] vgl. Fryer, Browyn: Storytelling That Moves People. In: Harvard Business Review. 2003 URL: https://hbr.org/2003/06/storytelling-that-moves-people (13.3.2017).
- [29] ebd.
- [30] Stein, Sol: Über das Schreiben. Frankfurt am Main 2005(9). S. 23.
- [31] vgl. McKee, Robert: Story. Die Prinzipien des Drehbuchschreibens. Berlin 2016(10). S. 150.
- [32] vgl. Fryer, Browyn: Storytelling That Moves People. In: Harvard Business Review. 2003 URL: https://hbr.org/2003/06/storytelling-that-moves-people (13.3.2017).