Dass dies schief gehen kann, hat, vielleicht unfreiwillig, Platon in seinem Dialog »Politeia« gezeigt in einem Abschnitt, in dem er den jungen Sophisten Trasymachos mit Sokrates diskutieren lässt. Es geht um die Begründung von Sittlichkeit überhaupt. Dazu sei ein kleiner Exkurs gestattet.
In der Antike stellte Platon (428—348 v. Chr.) die entscheidende Frage: Wer soll unser Staatswesen lenken und damit Macht über die niederen Stände und über die Wächter des Staates erhalten? Was sind die Kriterien der Auswahl und der Erziehung zu einem solchen Amt? Soll es der in allem Trefflichste, der alle Künste (téchne) Beherrschende, der Stärkste oder der Weiseste sein (Platon Nomoi III 690b, Popper 1992)? Um das Staatswesen zu lenken bedarf es der Teilhabe an den höchsten Ideen – und dies könne eben nur erreicht werden durch vielfältige Übungen im philosophischen Dialog, in Arithmetik, Sport, der Muse und der Kriegskunst. Der ideale Staatsmann ist bei Platon über 50 und Philosoph. Er soll Macht ausüben gemäß seiner Weisheit und aufgrund seiner Weisheit.
Dagegen steht die These des jungen Schnösels Trasymachos – gerecht sei das, was dem Mächtigen nütze –, zumindest solange er der Mächtigste sei (Platon, Politea, 338a—e). Der literarische Sokrates, also Platon, setzt dagegen: Die Rechtfertigung für die Macht des Staates und überhaupt für Macht von Menschen über Menschen leite sich daraus ab, dass darin ausgeübte menschliche Macht ihrem Wesen nach vernunftbestimmt sein müsse, sonst entarte sie zum Tierischen, d. h. politische und philosophische Macht müssten letztlich koinzidieren (Platon, Politea, 473 d). Also soll der durch Teilhabe an den Ideen gewonnenen moralischen Einsicht zur Macht verholfen werden. Das heißt, die Machtausübung darf nicht unmoralisch sein.
Herrschaft ist die Praxis der Macht. Und diese Praxis, die Platon auch bei seinem zweifachen Abenteuer in Syrakus scheitern lässt, sieht anders aus. Nüchtern beschreibt schon Thukydides (460—399 v. Chr.) im Peleponnesischen Krieg die Techniken der Macht. »Sehen wir Euch doch hergekommen zu richtendem Gespräch«[13], sagen die Melier den Athenern, die ihre Inselstadt mit einer überlegenen Macht belagern. Sie bieten höhnisch aus der Position der Stärkeren Verhandlungen mit dem Ziel der Kapitulation und Tributzahlung an. Andernfalls überrenne man die Insel, schlachte die Männer dahin und führe die Frauen und Kinder in die Sklaverei. So geschah es dann auch – die Melier vertrauten auf ihre Götter und wurden nach längerer Belagerung trotz anhaltenden Widerstands besiegt. Verhandlungen unter ungleichen Bedingungen stellen selbst schon Akte der Machtausübung dar. Das wissen auch die Athener, wenn sie den Meliern bei der Verhandlung zeigen, wo es lang geht: Recht gilt nur unter Menschen bei der Gleichheit der Kräfte, denn Macht versucht immer, das Mögliche durchzusetzen. Macht ist bei Thukydides eben nicht eine unmenschliche Ausnahmesituation, sondern in der Natur des Menschen fundiert – jeder würde so handeln, wenn er die Macht hätte. Aus der göttlichen Ordnung leite eben nur der Schwächste eine Ethik ab.
Diese »Realpolitik« macht sich Trasymachos in seiner Argumentation zu eigen. Denn Moral sei, so Trasymachos in Platons Dialog, nur ein Schutz für die, die nichts haben, nichts können – also machtlos sind. Sokratische Gegenargumente, z. B. der Rekurs auf die Gleichheit der Menschen, scheitern allesamt; Trasymachos verweist kühl auf die Unterschiede zwischen Herde und Hirt. Selbst die goldene Regel wird mit dem Einwand niedergebügelt, dass die Schmerzen der anderen nicht die eigenen Schmerzen seien. Solange Trasymachos der Stärkere ist, kann ihn der andere nicht so behandeln, wie er es nicht gerne möchte. Solange er der Stärkere ist, ist auch Rache nicht zu befürchten, und deshalb muss er dafür sorgen, dass er der Stärkere bleiben wird. Gerechtigkeit wäre also – so seine Position – nicht das, was dem Schwächeren, sondern dem Stärkeren nützt. Das würde bedeuten, dass Recht außer der faktischen Gewalt keine weitere Legitimation besitzt. Das bedeutet auch letztlich, dass es kein irgendwie einsehbares oder konventionell konstituiertes Sittengesetz gäbe, sondern nur Interessen.
Unsere Interessen sind jedenfalls klar: Wir wollen von keinem Trasymachos politisch gelenkt oder gar beherrscht werden. Ist Trasymachos potentiell ein Terrorist? Oder anders gefragt: Könnte diese Haltung Trasymachos zu einem Terroristen machen und, wenn ja, unter welchen Umständen? Trasymachos scheint keine anderen Ziele als den Machterhalt zu haben, und dazu muss er der Stärkere bleiben. Dies geht in einem Gemeinwesen entweder durch die mehr oder wendiger geschickte Organisation von Zustimmung oder durch Gewalt.
Geht es dem Terroristen nur um Macht per Gewalt, oder gibt es seinerseits weitergehende Interessen? Und welche Interessen würden denn Gewalt legitimieren?
3 Dein Terrorist – mein Freiheitskämpfer?
3.1 Zur Unterscheidung der Geister
Das geflügelte Wort in der Kapitelüberschrift relativiert: Danach hätten Terroristen Ziele, die mit bestimmten Interessen nicht vereinbar wären, mit anderen sehr wohl, und zwar solchen, die so wichtig und dringend wären, dass zu deren Durchsetzung sogar Gewalt legitimiert sein könnte.
In einem Blogg kann man das sehr gut nachlesen: »Hat dein Terror Erfolg, bist du am Ort des Geschehens nachträglich ein Freiheitskämpfer. Misslingt dein Freiheitskampf, bist du am Ort des Geschehens nachträglich ein Terrorist. Und Außenstehende werten das Geschehen nach eigenem politischen Gusto, mal so mal so. (…) Spätestens ab dem Moment, da dein Freiheitskampf Menschenleben kostet, wirst du von den direkt Betroffenen erst mal als Terrorist eingestuft werden. Die genaue Bezeichnung für deine Taten erteilt dir irgendwann die Geschichtsschreibung.«[14]
Beim Begriff »Freiheitskämpfer« scheint man einer Person in erster Linie ein politisches Ziel zuzubilligen, das dann im Mittelpunkt der legitimierenden Betrachtung steht. Beim Terroristen ist es hingegen eher die Wahl der Mittel, die Ausgangspunkt der Kritik ist. Diese Kritik ist dreifach: Zum einen werden Unschuldige bzw. Unbeteiligte in einen Konflikt hineingezogen. Zum anderen wird die öffentliche, d. h. mediale Rezeption des Leidens der Betroffenen für die Rezeption der Botschaft der terroristischen Protagonisten instrumentalisiert. Weiterhin wird das verursachte Leiden zugunsten der Sache zumindest billigend in Kauf genommen, wenn nicht sogar angestrebt.