Betrachten wir die Funktion eines modernen terroristischen Aktes, so soll eine Botschaft durch mediale Aufmerksamkeit, die durch Entsetzen garantiert wird, transportiert werden. Als Metabotschaft schwingt die Totalisierung der Bedrohung mit: Es kann jeden treffen, nicht nur eine Funktionsperson des ins Auge gefassten Feindes – also nicht nur Soldaten oder Regierungsleute, sondern Journalisten, Helfer, Touristen, zufällig Anwesende, Frauen, Kinder, alte Menschen, Unbeteiligte, Unschuldige, ja selbst Angehörige des eigenen Glaubens. Diese Funktion wird ergänzt durch variable Bestandteile: Es soll möglichst viele Nicht-Dazugehörige treffen, der Schrecken soll bei den Überlebenden und der Öffentlichkeit Verunsicherung, Demütigung und Meinungsänderung bis hin zu Verhaltensänderungen auslösen. Die pragmatische Funktion[15] des Gewaltaktes ist eine Drohung, deren Glaubwürdigkeit durch die Folgen der Handlung abgesichert werden soll. Erst zusammen mit dem Bekennerschreiben ist der terroristische Akt vollständig.
Die Frage bleibt, ob ein terroristischer Akt überhaupt ein Akt mit der Intention der Befreiung sein kann. Kann man dies tatsächlich nur als eine Frage der Perspektive beurteilen oder wird dies von der späteren Geschichtsschreibung entschieden? Die beiden Cottbuser Wissenschaftler Mario Harz und Christer Petersen haben die Begriffe Terrorist und Freiheitskämpfer analytisch untersucht. Dabei haben sie festgestellt, dass sich »der Begriff ›Terrorist‹ (…) sich nicht durch den Begriff ›Freiheitskämpfer‹ ersetzen [lässt], und dies gilt unabhängig von jeglichem Kontext, denn in den Relationen ›x erschreckt y‹ und ›x befreit y‹ können die Personen x nicht identisch hinsichtlich ihrer Bestimmung zum selben y sein« (Harz, Petersen 2008, S. 25).
Anders ausgedrückt: Ein Terrorist ist ein Erschrecker, und die Beziehung »x erschreckt durch die Tat z eine Person y« ist irreflexiv, d. h., ein Terrorist ist immer nur Terrorist für die anderen, nie für sich selbst. Bei einem Freiheitskämpfer sieht es anders aus: »x befreit y« ist reflexiv – denn man kann sich auch selbst befreien.
»Das gilt allerdings nur für einen Freiheitskämpfer, der auf der Ebene eines systemimmanenten Freiheitskampfes agiert, also als Individuum selbst Teil der staatspolitisch definierten Bevölkerung ist, die er befreien will. Es gilt nicht für Befreiungskriege, die von einer fremden Staatsmacht ausgehen.« (Harz, Petersen 2008, S. 25)
Daraus schließen Harz und Petersen Folgendes: Die Entscheidung darüber, ob im Einzelfall der Vorwurf des Terrorismus oder das Lob des Freiheitskämpfers berechtigterweise zutrifft, fällt die jeweilige Mehrheit der Betroffenen, also die am Diskurs beteiligten Gesellschaft.
Dies führt zu folgenden Definitionen:
»Jemand ist ein Terrorist, wenn die Menge der durch ihn Erschrockenen eine weltweite Mehrheit darstellt. Derselbe wird zum Freiheitskämpfer, wenn die Menge der durch ihn Unerschrockenen zunimmt und die Menge der Erschrockenen zur Minderheit wird. Und derselbe wird zum ›Held‹, wenn die Menge der Erschrockenen gegen Null geht.
(…) Jemand verübt als Held eine Heldentat, (d. h.) die Menge derer, die durch den Gewaltakt erschrocken sind, geht gegen Null und die Menge derer, die sich durch den Gewaltakt als Befreite deuten, sind nahezu alle Menschen.« (Harz, Petersen 2008, S. 34)
Das Spektakuläre einer Gewalttat ist daher für die Einordnung, ob es sich um einen Terrorakt handelt oder nicht, weit weniger entscheidend als das Ergebnis der Tat. Diese entscheidet, ob es sich um eine Tat im Rahmen eines Freiheitskampfs handeln könnte.
Die beiden Autoren räumen daher durchaus ein, dass es einem »normalen«, also dem intuitiven Rechtsempfinden zu widersprechen scheint, wenn man behauptet, dass nicht ein Gewaltakt an sich terroristisch ist, »sondern erst dazu wird, indem man ihn einem Terroristen zuschreibt, den Gewaltakt also im Rahmen einer Erschrecker- und ausdrücklich nicht im Rahmen einer Befreierrelation liest, interpretiert oder kontextualisiert.« (Harz, Petersen 2008, S. 26)
Die Autoren weisen allerdings darauf hin, dass eine Übertragung des Gedankengangs auf den Widerstand und das Attentat Stauffenbergs auf Hitler am 20. Juli 1944 diesen Hinwies plausibler macht. Denn die Kontextualisierung vom bloßen Attentat zu einem Rettungsversuch hat in der Bundesrepublik lange gedauert – heute würde dieses Attentat »auch dann nicht als Terrorakt gelten, wenn es geglückt wäre«[16].
3.2 Gründe des Terroristen und Gründe des Terrorismus
Wir müssen die Gründe für den Terroristen und Gründe für den Terrorismus unterscheiden. Die Motive und Beweggründe des Terroristen als Person liegen auf der individualpsychologischen wie auf der handlungstheoretischen Ebene, die Gründe des Terrorismus hingegen auf der politischen Ebene. Auf dieser Ebene müsste auch ein künftig zu entwickelnder kluger politischer Umgang mit Terrorismus liegen.
3.2.1 Individualpsychologischer Ausgangspunkt
Es ist schon fast ein Gemeinplatz: Generell können »normale« Menschen zu Terroristen werden. Wir kennen zur Genüge den Topos der KZ-Aufseher als brave Familienväter, Eichmann als spießiger Buchhalter und Logistiker des Todes, dem Hannah Arendt, sei dies nun gerechtfertigt oder nicht, »die Banalität des Bösen« attestierte (Arendt 1963).
Untersuchungen über die internationale Rekrutierung von Salafisten und Islamisten zu den Bürgerkriegen in Syrien und im Irak berichten vom Muster der Verlierer, der Aussteiger, also von Menschen, die unter Anerkennungsdefiziten aller Art leiden, von Leuten, die mit ihrer geringen Bedeutung und mit ihrer Mittelmäßigkeit unzufrieden sind und damit nicht fertig werden.[17] Diese Befunde sind sicher nicht verallgemeinerbar, doch legen sie ein Muster frei, das ideologie-invariant zu sein scheint.[18]
- [15] Man könnte hier im Sinne der Sprechakttheorie auch von der Illokution sprechen, also einer vom Inhalt unabhängigen Funktion einer Äußerung (vgl. Vossenkuhl 1993), bei der die Handlung der Äußerung diese Funktion unterstreicht oder sogar erst ermöglicht. Aus der analytischen Sprachphilosophie und ihrer Verknüpfung mit der Handlungstheorie wissen wir, dass es möglich ist, wie John Austin (1975) es nannte, »to do things with words«, und dass die Handlungen des Sprechens, also Sprechakte, Wirkungen und Folgen haben, deren Bedingungen man untersuchen kann.
- [16] ebd. In ihrem Fazit kommen Harz und Petersen zum Urteil, dass es sich bei den Anschlägen am 11. September zweifelsohne um einen Terrorakt gehandelt hat, aber völkerrechtlich fragwürdige Operationen wie »Enduring Freedom« und »Iraqui Freedom« wohl keine Befreiungskriege waren (ebd.).
- [17] Pars pro toto mögen hier Interviews genannt werden, die Todenhöfer (2015) mit »Vertretern« des Islamischen Staates geführt hat. Da das Interviews mit Abu Qatadah (alias Christian E., S. 243—251) nach Aussage Todenhöfers vor seiner Ausreise vom Islamischen Staat als »genehmigt« deklariert wurden, kann man davon ausgehen, dass diese Aussagen die »offiziellen« Positionen wiedergeben.
- [18] Der Kulturwissenschaftler Theweleit (2015) hat in einem aktuellen Buch »Das Lachen der Täter« die Lust am Töten, die keine ideologische oder religiöse Begründung braucht, untersucht. Psychische Krankheit oder die Figur des Bösen an sich sind nach Theweleit untaugliche Erklärungsversuche für das Unerklärliche. Vgl. auch Theweleit, Leick (2015) S. 136—139. Die mittlerweile stattgefundenen Anschläge in Deutschland 2016 sind aus Beweggründen verübt worden, die sich ideologisch nicht in ein einheitliches Raster einordnen lassen.