4.2 Kann man aus Gegnern starke Partner machen?
Wir kommen noch einmal auf die Vermutung von Žižik (2015) zurück, der einer der Gründe des Terrorismus in der Unsicherheit des Glaubens an den Islam bei vielen Protagonisten des Terrors auszumachen vermeint. Vorausgesetzt, dass dies ein ernst zu nehmender Grund sei, würde dies bedeuten, dass unsere Argumente gegen den Terror und gegenüber dem Terroristen nicht die Zweifel an seinem Glauben fördern sollten, sondern förderliche Rahmenbedingungen darstellen müssten, so dass sich der Gläubige seines Glaubens sicher sein kann. Umgekehrt gilt dann: Erst die Toleranz und das Akzeptieren von Pluralismus gestattet es, einen Glauben überzeugend leben zu können, ohne Angst vor Verunsicherung und Zweifeln an der eigenen Rechtgläubigkeit haben zu müssen. Das bedeutet ein Klima ohne Angst, Herabsetzung und Intoleranz, in dem aber eine wechselseitige Kritik durchaus möglich sein soll. Das muss trivialerweise für beide Seiten gelten.
Wir müssten also die Bedingungen für ein Leben des Glaubens als ein verantwortliches Handeln stärken, dass die Tatsache, dass es andere Glaubenssysteme gibt, anerkennt, anstatt eine uns fremde Religion oder Weltsicht zu bekämpfen. Den Islam beispielsweise »aufklären« zu wollen, erweist sich als Missverständnis, wenn man zu Kenntnis nimmt, dass sich der Islam ja selbst theologisch als Aufklärung gegenüber den Schriftbesitzern, also gegenüber dem Judentum und Christentum versteht (Uhde 2008). Das freilich kann man nur diskutieren in einem Klima ohne Gewalt und ohne massiv asymmetrische Verteilungskonflikte.
Was bleibt, wäre bereits vorher gewisse Freiräume zu schaffen, die eine friedliche Koexistenz im Gespräch ermöglichen. Trivialerweise geht das nicht, wenn elementare Fragen der Gerechtigkeit weder gelöst sind noch thematisiert werden dürfen.
Unsere Argumente gegen Gewalt sind nur dann glaubwürdig, wenn wir unsere eigenen Vorstellungen über Menschlichkeit in Bedingungen des verantwortlichen Handelns umsetzen können. Diese Glaubwürdigkeit hat die westliche Welt durch ihre bisherigen Interventionen im Nahen Osten wohl ziemlich verspielt.
Die wechselseitige Anerkennung verlangt aber auch, dass wir dem Terrorismus kein moralisches Vakuum bieten, in das er leicht und ungestört eindringen kann – sei er religiös fundiert, oder auch ein Terrorismus, der wie Trasymachos jegliche sittliche Grundlage negiert. Dieses moralische Vakuum ist um so eher zu verhindern, je bewusster wir uns unsere eigenen Werte, sittlichen Grundlagen und Glaubensinhalte machen und auch den Mut haben, sie zu leben. Hier im Westen scheint jedoch ein gewisser ethischer Unterdruck zu herrschen.
4.3 Wie gelingt das Sprechen mit Terroristen?
Was hat uns in Europa in unserer Geschichte überzeugt, unsere Religionskriege aufzugeben? Was brachte uns dazu, keine weiteren Hexen mehr zu verbrennen? Was hat den Holocaust beendet? Was stoppte die Massaker in den kolonialistischen und postkolonialistischen Auseinandersetzungen? Diese Fragen muss die Geschichtsschreibung beantworten – sicher scheint mir jedoch, dass es nicht nur philosophische Argumente der Aufklärung waren.
Ein früheres Beispiel[25] – um unziemliche tagespolitische Aktualität zu vermeiden – mag zur Erläuterung dienen: Beim Absturz des »Pan-Am«-Jumbojets über Lockerbie am 21. Dezember 1988 verlor eine Mutter aus einem deutschen Dorf ihren Sohn. Sie empfand den Tod ihres Sohnes als Mord und sah in ihm das unschuldige Opfer einer nach Herrschaft gierenden Terrorbande. Dies war auch die gängige Wertung in der Kommunikationsgemeinschaft, in der sie sich befand. Die »Verantwortlichen« für diesen Anschlag, der 259 Menschen an Bord und 11 Dorfbewohnern das Leben gekostet hat, erklärten sich als in einem »Heiligen Krieg« befindlich. In einem solchen Krieg dürfen nach einer gewissen Interpretation des Korans auch Ungläubige als Nebenfolge einer kriegerischen Handlung getötet werden, auch wenn sie nicht direkt an dieser Auseinandersetzung beteiligt waren oder sind.[26]
Man stelle sich nun einen »Diskurs« zwischen der Mutter des durch den Anschlag getöteten Sohnes und denjenigen Personen vor, die entweder den Auftrag für das Platzieren der Bombe gegeben oder die Bombe selbst platziert haben. Mit welchen Argumenten könnte sie beginnen?
Nun ist zu Beginn das Prinzip der Mehrwertigkeit genannt worden. Wenn die Mutter verstehen, d. h. nicht billigen will, was geschehen ist, müsste sie versuchen, sich darauf einzulassen, dass ihr Gegenüber ein anderes Wertsystem hat. Sie müsste ihrem Gegenüber zubilligen, dass, wie wir oben gesagt haben, ein solches anderes Wertesystem in seiner inneren Konsistenz und Tragfähigkeit verwendet wird, um ethisch relevante Situationen aus der Innensicht eben dieser anderen Kommunikationsgemeinschaft zu beurteilen.
Das reicht aber noch nicht hin. Es müssen von den Beteiligten im Gespräch Transformationsregeln erarbeitet werden, die die Werte, die Priorisierungrelationen, d. h. welche Werte wichtiger als andere sind, und die Diskursregeln verschiedener Kommunikationsgemeinschaften gegenseitig verstehen helfen. Das bedeutet, dass gegenseitiges Verstehen eine gewisse begriffliche, nicht nur sprachliche Übersetzungsleistung erfordert. Als Beispiel: Was »Heiliger Krieg« im Islam bedeuten kann, muss auch in Begriffen unserer Kultur und in unserer Sprache verständlich dargestellt werden können, und wir müssten in der Lage sein, Menschenrechte in Begriffen des Islam zu erklären. Erklären heißt hier, nicht in normativer, sondern deskriptiver Absicht eine solche »Übersetzungsleistung« zu erbringen. Das Erarbeiten solcher Transformationsregeln wäre als Bedingung der Möglichkeit von ethischen Diskursen zwischen den Kommunikationsgemeinschaften eine Pflicht.[27]
Beide Forderungen, Mehrwertigkeit und die »Übersetzungsleistung« müssten zunächst von beiden Seiten akzeptiert werden können. So würde einerseits von der Mutter verlangt werden, Folgendes anzuerkennen: erstens, dass diese Tat im Rahmen einer bestimmten Interpretation des Korans und des oben genannten Passus vom Heiligen Krieg djihâd im Wertesystem der Täter ein verantwortliches Handeln darstellt, und zweitens, dass sie von daher zunächst nicht erwarten kann, dass die Täter Reue zeigen. Reue wäre ja die Einsicht in das Unrechtmäßige des eigenen Tuns im Rahmen des eigenen Wertesystems.
Umgekehrt würde jedoch von den Tätern verlangt, die Haltung der Mutter anzuerkennen. Diese Haltung impliziert konsequenterweise die Schuldvorwürfe des Mordes und führt zur Forderung, Reue zu zeigen. Denn ohne Reue wäre eine Verzeihung durch die Mutter nicht möglich. Die Täter müssten diese Haltung zunächst deskriptiv verstehen, so wie sie auch verstehen und zubilligen müssten, dass ihre Taten außerhalb der eigenen Kommunikationsgemeinschaft nicht als »Heiliger Krieg«, sondern als unheiliger Terror und als Verbrechen an Unschuldigen angesehen werden.
Lassen wir die Variante beiseite, dass innerhalb des Islams, der ja viele Strömungen und Interpretationsrichtungen des Koran kennt, auch das Diktum vom »Heiligen Krieg« vielfältig interpretiert und beurteilt wird, und bleiben wir zur Vereinfachung bei den in diesem Falle antagonistischen Kommunikationsgemeinschaften.[28]
Die Tragweite der beiden Prinzipien, Mehrwertigkeit und Transformationsregeln, wird vielleicht dadurch deutlich, dass sie eine Mindestvoraussetzung für den Diskurs in einer solchen Situation darstellen. Diese beiden Prinzipien sind nicht hinreichend dafür, dass der Diskurs in Gang kommt, wohl aber einer der notwendigen Voraussetzungen. Die Behauptung ist eher, dass im Zusammenhang mit den beiden Prinzipien der Imperativ der Bedingungserhaltung den Diskurs wenn nicht zwingend eröffnen, so doch bei schon geleisteter Eröffnung in Gang halten kann. Wenn sich der eine Gesprächspartner beispielsweise bemüht, dem anderen zugute zu halten, dass er verantwortlich handeln will und auch kann, und gerade deswegen die Bedingungen der Möglichkeit verantwortlichen Handelns bewahren will, dann kann er ihn nicht dazu zwingen, die Voraussetzungen hierfür (d. h. sein Wertesystem, seine Identität, seine Autonomie etc.) ohne weiteres aufzugeben.
Es ist eine alte pragmatische Forderung, dass man es vermeiden sollte, dass der »Gegner« sein Gesicht verliert. Man solle immer beide Seiten hören und man solle niemanden zwingen, etwas zu widerrufen oder einer Überzeugung abzuschwören – auch das sind Forderungen, die gerne als eine Errungenschaft der Aufklärung deklariert werden. Sie sind jedoch eher Allgemeingut und verweisen darauf, dass man nur dann verantwortlich handelt, wenn man den anderen die Möglichkeit gibt, verantwortlich zu handeln.
Im Falle von Mutter und Attentäter wäre anzuerkennen, dass Strafandrohung bei den Tätern sinnlos und bei der Mutter es unmenschlich wäre, ihr die Trauer und sogar einen vorübergehenden Hass zu verweigern. Diese Anerkennung ist die Bedingung für den Beginn der Kommunikation und dafür, das Gespräch in Gang zu halten und im Laufe der Zeit »Übersetzungen« zu entwickeln, um sich gegenseitig besser zu verstehen. Es muss nochmals betont werden: Das heißt noch lange nicht, dass man die jeweils anderen Wertevorstellungen für akzeptabel halten müsste, aber man müsste zumindest akzeptieren, dass es unterschiedliche Wertevorstellungen gibt.[29] Dies stellt noch keine naiv-sentimentale Forderung nach allgemeinem oder vorzeitigem Konsens dar.
Differenzen zwischen Normen (ethische Konflikte im eigentlichen Sinne) können in einer Situation dann leichter Gegenstand des Diskurses werden, wenn man sich wenigstens auf die logische Struktur des Konflikts einigen und ihn auf einen Prinzipien- oder Wertekonflikt zurückführen kann: »Wir sind uns darin einig, dass wir uns in dem und dem Punkt uneinig sind.« Auch hier geht es wieder um die Erhaltung des Pluralismus, der Dissens ermöglicht.
Schwierig wird es in der Tat, wenn, wie beim Beispiel der Auseinandersetzung zwischen der Mutter des unschuldigen Opfers und den Attentätern, die Differenzen auf der Ebene der Werte und ihrer Priorisierung, also der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit liegen. Was ist im konkreten Fall des Handelns vorrangig? Glaubensüberzeugungen oder individuelles Leben? Hier haben die Hypothesen des Zusammenpralls der Kulturen ihren Gegenstandsbereich, weil sie die Entstehung jeweils unterschiedlicher Wertesysteme als jeweilige Kulturleistung ansehen, die zum harten Kern des zu Verteidigenden oder des zu Missionierenden gehören. Hier beginnt auch die Bindung von persönlichen Wertevorstellungen an die identitätsstiftende Potenz der Zugehörigkeit zu einem Kulturkreis oder einer Gruppe, oder einer Nation, kurz – zu einer wertebasierten Kommunikationsgemeinschaft im obigen Sinne. Trotzdem kann auch in dieser Situation immer noch darüber gesprochen werden, was dem jeweils anderen wichtig ist.[30]
Solange Trasymachos bei seiner Haltung bleibt, gibt es kaum ein Argument gegen seine a-moralische Haltung, ja es gibt auch keine notwendige Bedingung zur Eröffnung des Dialogs. Hier gelingt kein Sprechakt mehr und jede Wertegemeinschaft tut gut daran, Trasymachos an seinen Taten so früh wie möglich zu hindern. Dies kann nur durch die Kommunikationsgemeinschaft geschehen, die Trasymachos mit seiner Haltung verlassen hat, ohne die Werte auch anderer Kommunikationsgemeinschaften anerkannt zu haben. Ohne Anerkennung institutioneller Regeln gelingt auch die Verhinderung einer Handlung durch nur sprachliche Akte nicht. Wenn wir also nach Argumenten suchen, die wir äußern könnten, um Terroristen zu beeindrucken, dann müssen wir neben der Illokution[31] der Behauptung oder Feststellung, der Warnung, der Drohung, der Bitte und der Frage vielleicht auch nach der Illokution des Verhinderns einer Tat oder Abhaltens von einer bereits begonnenen Handlung suchen. Dies ist in der Sprechakttheorie eine bisher offene Stelle.
- [25] Modifiziert entnommen und erörtert aus Kornwachs (2000).
- [26] Der Heilige Krieg (djihâd oder gihâd) – d. h. »Krieg auf dem Wege Gottes«, auch im Sinne von »Bemühung« – ist eine Verpflichtung für die muslimische Gemeinde im Ganzen. Das Volk, gegen das sich der djihâd richtet, kann entweder nach Aufforderung den Islam annehmen, sich unterwerfen und dabei Steuern zahlen oder kämpfen. Weigert es sich, können seine Bürger im Kampf getötet oder zu Sklaven gemacht werden (vgl. Wensinck, Kramers 1976, S. 112). Jeder Muslim kann in diesem Falle Ungläubige straflos töten. Ein Muslim, der kämpfend stirbt, ist ein Märtyrer, dem das Paradies mit besonderen Wonnen sicher ist (a. a. O., S. 284; vgl. auch Ahmad 1992). Ein möglicher Bezug ist die Sure 9, 41 des Korans: »Ziehet aus, leicht und schwer und streitet (eifert) mit (euerem) Gut und (eurem) Blut für Allahs Sache (in Allahs Weg). Das (solches) ist besser für Euch, wenn ihr es nur wüßtet (so ihr es begreift).« (Qur-ân, Ahmad 1989, in Klammer die Version von Henning 1991). Die beiden Übersetzungsversionen – die erste stammt aus der Ahamadya-Schule – zeigen schon die unterschiedlichen Interpretationen. Die Belohnung für diese Pflicht beschreibt Sure 16, 31—33 resp. bei Koran/Henning 30—32. Die Interpretationen sind generell unterschiedlich, viele muslimische Geistliche betonen die friedliche Seite des djihâd mit der Möglichkeit der Gnade (vgl. auch die Sure 47, 3—6, resp. bei Koran / Henning ebenfalls 3—6) oder auch als Askese und Kampf mit sich selbst.
- [27] Dies habe ich früher »das Prinzip der Interkontextualität« genannt. Vgl. Kornwachs (2000).
- [28] Es wird gelegentlich mit Emphase eingewendet, dass sich Mütter auch interkulturell über ihre Einschätzungen und über das Schicksal ihrer Söhne und Töchter verständigen könnten, weil sie jenseits der differierenden Wertesysteme den gemeinsamen Kern, der instinktgebunden sei, nicht dispensieren könnten. Das mag so sein, löst aber das Diskursproblem zwischen Mutter und Attentätern, die ja keine Mütter sind, nicht.
- [29] In Abwandlung des Sprichworts von Madame A. L. G. de Staël (1766—1817) könnte man sagen: Tout comprendre ce n´est pas tout pardonner – alles zu verstehen, heißt nicht, alles zu verzeihen.
- [30] Journalisten, die versuchen, in einen Dialog mit Fundamentalisten zu treten, berichten, dass Gespräche über das Wetter und über Fußball erste »Türöffner« sein können. Trotz der scheinbaren Trivialität solcher Themen ist diese Erfahrung ein Hinweis darauf, dass es weltweit selbst in den verschiedensten Kulturen Bereiche gibt, über die eine – allerdings meist folgenlose – Verständigung möglich ist. Das hängt vermutlich damit zusammen, dass die pragmatische Funktion (Illokution) dieser Sprechakte rein assertiv bleibt und noch keine Handlungskonsequenzen impliziert. Diese Verständigung kann aber ein Punkt sein, von dem aus der Dialog wenigstens aufrechterhalten werden kann.
- [31] vgl. Fußnote 23.