Ein weiterer Aspekt ist: Als Referent hoffe ich für mich, dass ein paar Zuhörer bereit gewesen wären, mir zu glauben, dass diese Meldung tatsächlich veröffentlicht worden ist, ohne die näheren Angaben zu hören, und darauf vertraut haben, dass der Vortragende Volker Friedrich diese Meldung gelesen hat und weiß, wovon er spricht und was er zitiert. Was in diesem Fall passiert ist, wenn mir die Zuhörer in dieser Form Glauben geschenkt haben, das wird weiter unten erläutert (anhand der Begriffe »Logos«, »Ethos« und »Pathos«).
Aber jetzt springen wir einmal in den Inhalt dieser Meldung: Da wird gesagt, dass wir in einem postfaktischen Zeitalter lebten – oder? Nein, das wird nicht gesagt. Es wird gesagt, das »postfaktisch« das Wort des Jahres sei, und zwar international; zum Wort des Jahres sei es ernannt worden von dem englischen Vergleichsprodukt zum deutschen Duden, dem »Oxford Dictionary«. Wir erfahren aus dieser Meldung, dass der englische Begriff »post truth« ins Deutsche mit »postfaktisch« übersetzt wird. »post truth« müsste eigentlich mit »nach der Wahrheit« übersetzt werden, aber wir nehmen es einmal hin. »post« bedeutet »nach«; »faktisch« kommt vom lateinischen »faktum« und bedeutet »Tatsache«, »Ereignis«.
Eine Annahme lautet nun: Wir bewegen uns in einer Zeit, die sich in ihrem politischen Verhalten, zumindest in Teilen der Bürgerschaft, orientiert an »Nicht-Fakten«, an Dingen, die nach den Fakten kommen – die Faktenorientierung verliert an Gewicht.
Spätestens an diesem Punkt kommt der Begriff »Wahrheit« ins Spiel und Begriffe wie »Tatsachen« oder »Fakten«. Das sind philosophisch schwierige Begriffe. Denen wenigstens ein ganz klein bisschen auf die Schliche zu kommen, wird ein Strang der weitergehenden Erzählung sein. Dann befassen wir uns mit dem Phänomen der Demagogie in der Politik und versuchen ein einfaches Erklärungsmodell für derlei Phänomene zu etablieren. Auf dieser Basis wird dann ein Aspekt der Gestaltung von Wahlkampf-Medien betrachtet.
2 Philosophische Wahrheitsbegriffe
Was ist »Wahrheit«? Was sind »Tatsachen«? Je nachdem, von welcher philosophischen Position aus diese Fragen beantwortet werden, erhält man unterschiedliche Interpretationen.
Um beispielhaft ein paar philosophische Positionen in grober Vereinfachung zu skizzieren: Radikale Konstruktivisten gehen davon aus, dass die Wirklichkeit eine Konstruktion unserer Gehirne sei. Diesem Konzept gemäß ist »Wahrheit«, sind »Tatsachen« ebenfalls nur Konstruktionen, sie können nicht als objektiv oder absolut angesehen werden. Ähnlich sieht das der Perspektivismus, für den »Wahrheit« abhängt davon, welche Position zur Wirklichkeit wir einnehmen. Dies wäre eine Spielart des Relativismus, der die Allgemeingültigkeit von Erkenntnissen negiert, da alle Erkenntnis vom Standpunkt des Betrachters abhänge. Der Ethnozentrismus wiederum verortet den Standpunkt eines Betrachters in seiner Kultur. Manche Pragmatisten gehen davon aus, dass »Wahrheit« eine Frage des Konsenses ist, der über Aussagen erzielt wird; andere Anhänger des Pragmatismus sehen das als »wahr« an, was ihnen nützt, was für sie und in einer Situation vorteilhaft ist. Der kritische Rationalismus wendet sich einem Realismus zu, hält es für möglich, sich der »Wahrheit« anzunähern und setzt sie damit voraus. Gleichwohl lässt sich in der Moderne und der Postmoderne eine Auflösung oder Aufweichung des Wahrheitsbegriffes beobachten. All diese Positionen tragen unter philosophischen Gesichtspunkten interessante, diskussionswürdige und komplexe Argumentationen vor – indes helfen uns diese Argumentationen nur eingeschränkt bei den Fragen weiter, die in Politik und Gesellschaft mit dem Begriff »postfaktisch« verknüpft werden. Wenn komplexe Fragen so weit reduziert werden, dass »gefühlte Wahrheiten« gesellschaftliche Debatten bestimmen können, ist die Flughöhe philosophischer Debatten unerreichbar.
Deshalb halte ich es für hilfreich, zwischen einem philosophischen und einem Alltagsbegriff der Wahrheit zu unterscheiden. Für einen Alltagsbegriff von Wahrheit können wir auf das zurückgreifen, was in der Philosophie mit »Korrespondenztheorie der Wahrheit« bezeichnet wird, nämlich auf diese Auffassung: Eine Aussage ist dann wahr, wenn sie mit den Tatsachen, mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Philosophisch ist dieser Ansatz durchaus kritisierbar – gäben wir ihn als Alltagsbegriff von Wahrheit auf, hätte das für unser gesellschaftliches Leben hingegen geradezu katastrophale Konsequenzen: Wie sollte ohne diesen Alltagsbegriff von Wahrheit beispielsweise vor Gericht festgestellt werden, ob ein Angeklagter eine Tat begangen hat oder nicht? Wie wollte ein Richter feststellen, ob eine Aussage zutrifft oder nicht – wenn alles nur eine Frage der Perspektive, des Standpunktes, der Konstruktion, der Nützlichkeit, der »gefühlten Wahrheit« usw. wäre?
Die kulturelle Entwicklung in der Antike wird häufig beschreiben als eine, die sich vom Mythos zum Logos entwickelt habe, also mythologische Erklärungen der Entstehung der Welt und ihrer Verhältnisse durch rationale, vernunftgeleitete Erklärungen ersetzt habe. Diese Entwicklung vom Mythos zum Logos sei befördert worden durch die Ablösung von Kulturen der Mündlichkeit durch Schriftkulturen. Kulturen, die über Schrift verfügen, ermöglichen Debatten, die nicht orts- oder zeitgebunden sind, wovon Philosophie und Wissenschaften profitierten. Als Kulturpessimist könnte man gegenwärtig auf die Idee kommen, dass diese Entwicklung nicht mehr unumkehrbar ist, dass wir vom Logos zum Mythos »gefühlter Wahrheiten« schreiten. Somit liefen Demokratien Gefahr, Stimmungen in der Gesellschaft und die Lautstärke, in der sie artikuliert werden, für wichtiger anzusehen als den Wettstreit rationaler Argumente.