Sollten gleichwohl diese Bedingungen erfüllt sein, so bleibt die Zuschreibung von Autorität in den von Massenmedien geprägten Gesellschaften immer nur vorläufig. Wird in komplexen Diskursen Autoritäten große Bedeutung beigemessen und werden deren Aussagen zudem hyperbolisch als überzeitliche Wahrheiten gehandelt, entsteht rhetorisch eine große Fallhöhe: In der Corona-Pandemie mussten Regierungspolitiker in einer schwierigen, neuartigen Situation in für Demokratien kurzer Taktung gewichtige Entscheidungen fällen, die nicht in einem längerwährenden demokratischen Prozess geprüft, geschliffen und sukzessive vermittelt werden konnten. Um Vertrauen für die Richtigkeit solcher Entscheidungen bei der Bevölkerung zu wecken, wurde mit Autoritätsargumenten gearbeitet und auf die Glaubwürdigkeit von Medizinern, Virologen, Epidemiologen und generell »der Wissenschaft« gesetzt, auf deren Aussagen bezog man sich und nahm sie als Begründung für politische Entscheidungen. Im politischen Diskurs und von Medien werden diese Autoritätsargumente u. a. damit angegriffen, dass »die Wissenschaftler« nicht alles identisch bewerten und voneinander abweichende Empfehlungen aussprechen. Wenn aber die Autorität »Wissenschaft« nicht für eindeutige, stabile und dauerhaft wahre Aussagen gut ist, dann wird ihr von den Teilen der Öffentlichkeit, die eine falsche Vorstellung von Wissenschaft, Objektivität und Wahrheit vertreten, Autorität aberkannt – und damit wird den Politikern, die auf diese an den Logos angebundenen Autoritätsargumente setzen, die Glaubwürdigkeit abgesprochen. In Teilen der Gesellschaft kann dann ein Nährboden für Populismus oder gar Verschwörungstheorien wachsen.[17] Wenn Sachargumente, die auf den Logos von Autoritäten gründen, nicht mehr greifen, kann Überzeugung leicht durch Affekterregung allein hervorgerufen werden.
5 Das Apolitische als neue Autorität
Wenn Persuasion über als Selbstzweck angelegte Affekterregung auch dauerhaft erreicht werden kann, dann verändert sich damit auch, was bisher rhetorisch als Autorität verstanden wurde. Autorität gründet dann nicht mehr auf dem Logos, gründet nicht mehr primär auf Kompetenz in der Sache, sondern auf der Kompetenz, Affekte zu erregen und fachliche Kompetenz zu simulieren.
Wie an Gefühle appelliert wird, unterliegt Veränderungen, sozialpsychologischen ebenso wie dem Wandel der Kommunikationsformen – so wird in den sogenannten »sozialen Netzwerken« an Gefühle anders, unmittelbarer und subjektiver appelliert, als das in journalistischen Medien »alter Schule« geschah, die zumeist einer professionell vereinheitlichen Auffassung von Objektivität anhingen.
Der Ethos-Appell in der politischen Kommunikation mag zwar immer noch an Kompetenz anzubinden sein, nur die Auffassung davon, was politische Kompetenz ist, wandelt sich fortwährend. Zu früheren Zeiten wäre ein sich als Anti-Politiker gerierenden Kandidat wie Donald Trump wohl nicht als politisch kompetent angesehen worden, sondern als politisch ahnungslos. In seiner ersten Präsidentschaftskandidatur konnte er seinen Anhängern genau das als Vorteil vermitteln: Er sei Unternehmer, also ein Macher, und nicht Teil der politischen Klasse. Diese Darstellung kam an, weil die politische Klasse in vielen Medien, insbesondere den »sozialen Medien« geradezu reflexartig verächtlich gemacht wird.
Der Logos-Appell und das kritische Prüfen von Argumenten wird in solchen Diskursen – auch hier ist ein rhetorischer Wandel der politischen Autorität zu beobachten – nicht mehr als Krönung der Persuasion angesehen; ob Argumente folgerichtig, in sich schlüssig und fehlerfrei aufgebaut sind und angemessen dargeboten werden, ist nicht mehr der wichtigste Maßstab. Es kann genügen, die Überzeugung in die Form der Darbietung zu legen. Die kritische Prüfung der Inhalte einer Argumentation erscheint in solchen Prozessen als zu aufwendig oder, angesichts der Komplexität der politischen Probleme, als nicht mehr durchschaubar, also kann man diese Auseinandersetzung auch unterlassen und sich allein am Pathos- und Ethos-Appel und der Darbietung orientieren.