Welche Rolle weisen Sie der Rhetorik zu, speziell in ihrem Einfluss auf die visuelle Kommunikation in der Renaissance? Und was könnten Ihrer Auffassung nach Designer heute davon lernen?
Ja, von Kunstwerken kann man nichts lernen, weil sie ja einmalig, genial und auratisch sind. Man kann sie nur bewundern. Und man kann vor ihnen in Verzückung geraten, Verzückung, die neurotische Formen annehmen kann. Wenn es aber stimmt, dass die Renaissance durch intelligente Theoriearbeit entstanden ist, dann kann man von ihr alles lernen. Da ist zum Beispiel die Sache mit der integrativen Organisation des Alberti-Systems. Es weist jedem in der Kultur möglichen Sachverhalt einen markierten Ort zu. Und es kann auch Bilder für die Markierung von Orten benutzen. Das bedeutet: auch die Bilder werden von der integrativen Kraft des Alberti-Systems erfasst. Das bedeutet: Wir haben es hier mit einem kulturellen Organisationssystem zu tun, das Architektur und Bildproduktion umfasst. Das führt uns zur zweiten großen theoretischen Errungenschaft der Renaissance: nämlich zum Timanthes-Effekt. Alberti beschreibt in seinem Theoriewerk »De pictura«, (»Über die Malerei«) den Timanthes-Effekt. Dieser Effekt funktioniert folgendermaßen:
Die extremen negativen Emotionen, die in der Rhetorik den erhabenen Stil kennzeichnen, kann man auch mit Malerei auslösen. Das geht aber nur durch Verhüllen von Bildern. Wenn ein Bild sagen will: diese Person ist von einer negativen Emotion aus der Fassung gebracht worden, dann soll sich der Betrachter des Bildes eine Emotion vorstellen, die so stark ist, dass man sie durch das Bild eines menschlichen Gesichts gar nicht ausdrücken könnte. Für diese Gesetzmäßigkeit gibt es neurophysiologische Erklärungen. Der Maler muss also ein von Emotion entstelltes Gesicht verhüllen. Das hat Timanthes in seiner Darstellung des Opfers der Iphigenie getan. Das Bild erzählt, Iphigenies Vater Agamemnon habe durch die Horrorvorstellung, dass seine Tochter im nächsten Augenblick auf einem Altar geopfert werden sollte, die Fassung verloren. Timanthes erzählt dies, indem er Agamemnon sein Gesicht mit dem Gewand verhüllen lässt. Diese piktorale Erzähltechnik kann man so, wie sie ist, übernehmen und im heutigen Kommunikationsdesign verwenden.
Diese Technik ist nicht im eigentlichen Sinne rhetorisch. Sie gehorcht nur denselben Gesetzen wie die Rhetorik. Auch in der Rhetorik kann man Emotionen durch Bilder auslösen. Allerdings handelt es sich dort um Bilder in nicht visuellen Medien. Der Redner muss sich das emotionale Bild in seiner Phantasie vorstellen. Dann bemächtigt sich die durch das Bild ausgelöste Emotion seines Körpers. Das sehen seine Zuhörer, und durch Empathie wird die Emotion dann auf die Zuhörer übertragen. In der Rhetorik funktioniert es also etwas anders. Deshalb ist es nicht ganz korrekt, beim Timanthes-Effekt von »Bildrhetorik« zu sprechen. Das Wort »Bildrhetorik« ist dann selbst rhetorisch: nämlich eine Metapher.
Im Zusammenhang mit dem Wiederentdecken und Anwenden des antiken Wissens in der Renaissance sprechen Sie von »intrakulturellem Kulturrelativismus«. Können Sie diesen Begriff näher erläutern?
Die Initialerfahrung der italienischen Renaissance vollzog sich auf dem Gebiet der Rechtswissenschaften. Die italienischen Humanisten waren alle Juristen. Sie hatten in der Regel studiert an der Universität Bologna. Dort wurde das Justinianische Recht gelehrt, benannt nach dem byzantinischen Kaiser Justinian. Dieses Recht war vom Vatikan übernommen worden und seine Geltung wurde für das ganze mittelalterliche Europa durchgesetzt. Als Rechtsquelle galt Gott, und zwar der Gott der Christen. Mit ihren Studien der römischen Literatur, die weit über das Gebiet des Justinianischen Rechtswerks hinausgingen, erkannten die Humanisten, dass das Justinianische Recht nicht originär byzantinisch war, sondern dass es eine verderbte Form des heidnischen römischen Rechts war. Und durch intensive Studien der so genannten Pandekten-Schriften erkannten sie auch, dass das heidnische Recht an vielen Stellen dem christlichen Recht an Systematik überlegen war. Anders ausgedrückt: Sie erkannten, dass das heidnische Recht stellenweise »gerechter« war als das christliche Recht. Das war eine Erfahrung, die man heute eine freudsche Kränkung nennen würde. Eine Kränkung dieser Art war zum Beispiel die Entdeckung, dass die Erde nicht Mittelpunkt des Universums ist. Ich nenne diese Erfahrung »intrakultureller Relativismus«, weil in dieser Erfahrung enthalten ist: erstens die Erkenntnis, dass die eigene Kultur und die heidnische Kultur dieselbe Kultur ist, denn das Justinianische Recht wird ja als verderbte Fortsetzung des heidnischen Rechts erkannt; und zweitens die Erkenntnis, dass es in derselben Kultur zwei einander widersprechende Grundannahmen gibt: nämlich Heidentum und Christentum. Wenn man jetzt zu der Meinung gelangt, das Heidentum sei partiell gerechter als das Christentum, wird das Christentum »relativiert«.
Ich halte diese Entdeckung des italienischen Humanismus für die Initialzündung aus der sich schließlich das Prinzip des säkularen Staats entwickelte und das Prinzip: Religion ist Privatsache.