4 Systematisierung nach neurophysiologischen Modellen
Die thematische Überschneidung der klassischen Rhetorik mit der visuellen Kommunikation begründet sich auf dem übergeordneten Begriff Kommunikation[8], speziell des Informationsaustausch und der Persuasion. Dadurch lassen sich die Parallelen in den übergeordneten Strukturen erklären. Die große Leistung der Rhetorik ist, strukturell unterschiedliche Arbeitsschritte, Systematiken und Heuristiken explizit gemacht zu haben. Durch diese Disziplin, die sich über ca. 90 Generationen gehalten und weiterentwickelt hat, ist offensichtlich eine Sublimierung von universell geltenden Kommunikationsstrukturen ins Heute vorgedrungen. Die Verdichtung von funktionierenden Handlungsweisen in der Kommunikation, macht Rhetorik zunehmend zu einem begehrten Forschungsobjekt für die Kognitionsforschung, speziell für die Bereiche Neurophysiologie, Neurolinguistik und Neuropsychologie.
Die Erforschung der Kommunikationsstrukturen hinter den Erscheinungen, die die Rhetorik modellhaft zusammengetragen hat, erlaubt es diese als eine medienübergeordnete Praxis, zu beschreiben. Erkenntnisse aus neuronalen Prozessen bei sogenannten höheren kognitiven Leistungen, wie etwa bei der visuellen Wahrnehmung, bei Gedächtnisprozessen, Prozessen des Verstehens, der Empathie, der Verarbeitung von Humor usw., veranlassen dazu, Informationsübermittlung und Persuasion und damit das Feld der Rhetorik, umfassender zu begreifen. Das physische Erleben der Rhetorik ist ein wichtiger Forschungsgegenstand und würde neben Erkenntnissen für die Kognitionsforschung, ein profunderes Verstehen der Kommunikationsmechanismen ermöglichen. Ein Modell des rhetorischen Erlebens im Gehirn wäre ein zentraler Ansatz, um eine grundlegende Systematik des Kommunikationsvorgangs zu erfassen. Das Entschlüsseln der rhetorischen Funktionsweisen würde die Übertragung der Strukturen auf den Bereich der visuellen Kommunikation unterstützen.
Es ist bereits gelungen, naturwissenschaftliche Erklärungen für die affektive Wirkung ikonografischer Phänomene zu finden, was für ein tieferes Verständnis derselben gesorgt hat.[9] Eine Systematisierung der Rhetorik nach neurobiologischen Modellen ist ein folgerichtiger Schritt, um ihre Wirkungsweise auf physiologischer Ebene verstehen zu können. Das daraus resultierende Verständnis der im Körper verorteten rhetorischen Wirkung ermöglicht, ähnlich dem reverse reverse engeneering, eine gezieltere Bedienung der physiologischen Voraussetzungen für Kommunikation. In einer Reihe von Experimenten der Gruppe »TRACE«[10] konnten Erkenntnisse aus der Überschneidung von neuzeitlicher Linguistik, Semiologie und neurophysiologischer Kognitionsforschung auf einen gemeinsamen Nenner mit dem Erfahrungswissen der klassischen Rhetorik gebracht werden. Durch mehr Erkenntnis über die Biologie der rhetorischen Handlung und Verarbeitung, hätte man einen Ansatz für eine holistische, interdisziplinäre Theorie, die antikes Wissen nutzen würde, um ein tiefes Verständnis von komplexen Kommunikationsprozessen, auch der visuellen Kommunikation, zu erlangen.
- [8] vgl. Ueding, Gert (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. 10 Bde. Tübingen 1992—2012.
- [9] vgl. Heinen, Ulrich: Zur bildrhetorischen Wirkungsästhetik im Barock. Ein Systematisierungsversuch nach neurobiologischen Modellen. In: Knape, a. a. O., S. 113—158.
- [10] s. Oppenheim, Ilan; Vannucci, Manila; Mühlmann, Heiner; Gabriel, Rainer; Jokeit, Hennric; Kurthen, Martin; Krämer, Günter; Grunwald, Thomas: Hippocampal contributions to the processing of architectural ranking, NeuroImage 50,2010, p. 742—752; und auch Mühlmann, Heiner: Die Natur der Kulturen. München 2011