Mythen des Alltags
Selfie-Stick
Wenn Teleskopstab-Akrobaten fotografieren
»Entschuldigung, könnten Sie bitte ein Foto von uns machen?« – diese Frage hört man immer seltener, denn stattdessen greifen Freizeitfotografen heute emanzipiert zum Selfie-Stick.
Nach seiner Erfindung und Markteinführung unter dem Namen »Quikpod« wurde der Selfie-Stick 2014 im Time Magazine unter die 25 besten Erfindungen des Jahres gewählt.[1] Ebenfalls 2014 schossen die Google-Suchanfragen nach dem Suchbegriff »Selfie-Stick« weltweit in die Höhe.[2]
Das spiegelt sich in der Realität wider: Immer öfter sind in der Öffentlichkeit Menschen mit einem Selfie-Stick zu sehen. Das Prinzip dabei ist simpel: Der Selfie-Stick ist ein ausfahrbarer Teleskopstab, an dessen einem Ende sich ein gummierter Griff, am anderen Ende eine Halterung für Smartphones befindet. Der Stab wird zu einem verlängerten Arm und erlaubt dabei einen höheren Winkel und damit andere Perspektiven. Das ermöglicht auch Aufnahmen von mehreren Personen oder das Einbeziehen der Umgebung.
Einen Vorläufer einer solchen Armerweiterung zum Fotografieren präsentierte die Firma »Minolta« schon 1983 mit ihrer patentierten Teleskopverlängerung für Kameras[3] Mittlerweile hat der Teleskopstock jedoch einiges an Raffinesse hinzugewonnen. Der Auslöser der Handykamera kann bei den mittel- und höherpreisigen Modellen beispielsweise mittels Bluetooth oder direkt am Griff des Stabs betätigt werden. Das erspart ein lästiges Einstellen des Selbstauslösers an der Handkamera und ganz nebenbei auch noch das wenige bisschen soziale Interaktion, das nötig gewesen wäre, hätte man einen Passanten um die perfekte Inszenierung bitten müssen. Der Selfie-Stab macht uns unabhängig. Das macht ihn besonders bei Touristen zu einer unverzichtbaren Erweiterung der Ich-Zone. Kaum ein Stadtbummel, in dem man nicht einen Selfie-Stick-Knipser entdeckt und ihn bei seinen zahlreichen »Schnappschüssen« amüsiert beobachten könnte. Kaum eine Innenstadt, in der man sich nicht durch dieses gesponnene Netz aus Teleskopstäben und angestrengt in ihre Smartphones grinsenden Menschen manövrieren müsste.
Die Selfie-Stick-Manie geht mittlerweile so weit, dass sich viele große Museen, Freizeitparks und Sportvereine gezwungen sehen, Maßnahmen zu ergreifen. Das Sicherheitsrisiko sei schlichtweg zu groß. Die Staatlichen Museen Berlin zum Beispiel ordneten den Teleskopstab als »sperrige[n] und scharfkantige[n] Gegenstand« ein, der sowohl Besucher, wie auch Ausstellungsstücke gefährde.[4]
Das boomende Sich-selbst-Fotografieren ist jedoch keineswegs bloß Ausdruck einer neuen Selbstverliebtheit, sondern vielmehr eine Vergewisserung seiner Selbst, ein Zeichen von Identitätsbewusstsein, ein Herausheben des Individuums aus der Masse. Das Selfie kann als eine zeitgenössische Form der Kommunikation gesehen werden – der Selfie-Stick ist dabei ein hilfreiches Werkzeug hin zur Professionalisierung des Selbstporträts und dem Erhalt der Kontrolle über die Darstellung des Ichs.
Dennoch empfindet mancher diese Flut an meist belanglosen Selbstdarstellungen als befremdlich. Das schamlose, öffentliche Posieren mit dem Selfie-Stick wirkt beinahe so, als sei es irrelevant, welchen Eindruck man in der realen Welt hinterlasse. Viel wichtiger sei die, ohnehin besser kontrollierbare, Inszenierung und Platzierung des Ichs in der virtuellen Welt. Der Selfie-Stick fördert diese Verschiebung von Realität zu Virtualität nicht nur in Bezug auf die Persönlichkeitsdarstellung. Auch die soziale Kommunikation und Interaktion verlagert sich immer weiter in den virtuellen Raum. »Gefällt dir dieses Foto? Kommentar hinzufügen …«
- [1] https://www.stern.de/digital/homeentertainment/selfie-stange--wayne-fromm-von-quikpod-ist-der-erfinder-des-selfie-stick-3472316.html, Stand: 8.7.2019.
- [2] https://trends.google.de/trends/explore?date=all&geo=DE&q=selfie%20stick, Stand: 8.7.2019.
- [3] https://patents.google.com/patent/US4530580, Stand: 8.7.2019.
- [4] https://www.monopol-magazin.de/selfie-sticks-vielen-deutschen-museen-verboten-0, Stand: 8.7.2019.