Wie dem auch sei! Wer über Musils Umkehrung der Laufordnung nachdenkt, kann zum einen die Häufung des Wortes »stellen« an diesen Stellen des Romans nicht übersehen. Der »Mann ohne Eigenschaften« stellt Fragen nach der Stellung des Menschen in der Welt: Kann man sich die Wahrheit vorstellen oder sie feststellen, während man ihr nachstellt? Und die Menschen werden dabei zum zweiten feststellen, dass in diesem nach Stabilität klingenden Wort eine Dynamik steckt und sich Suchende sputen müssen, um die Wahrheit greifen oder begreifen zu können. Dabei bleibt unabhängig von der Reihenfolge der Rennenden die Vorstellung erhalten, dass das, was antike Philosophen griechisch »aletheia« oder lateinisch »veritas« nannten, nur verhüllt anzutreffen ist (und »Die nackte Wahrheit« bestenfalls als Komödie gezeigt oder als Witz angesprochen werden kann). In der Poesie trifft man auf das verschleierte Bild zu Sais, womit eine verborgene Götterstatue (die der Isis) in der altägyptischen Stadt Sais gemeint ist. Das von einem Tuch umfangene Bild ist schon in der Antike als göttliche Verkörperung der Natur betrachtet worden. Wer die auf elegante Weise verhüllte Wahrheit schauen will, muss ein leichtes Tuch lüften, und der Jüngling, der den entsprechenden Mut aufbringt, wird erstaunlicherweise bei dem Aufklärer Friedrich Schiller mit dem Tode bestraft – er findet ein »frühes Grab«, wie es in seiner Ballade »Das verschleierte Bild zu Sais« von 1795 heißt. Der Romantiker Novalis hingegen gewährt in seinem noch vor 1800 verfassten Romanfragment »Die Lehrlinge zu Sais« dem Neugierigen ein glückliches Leben bis zu seinem natürlichen Ende. Der romantische Held durfte im Traum unter den Schleier schauen und konnte dort zu seinem Erstaunen was erblicken? Er sah sich selbst! Bei der Suche nach Wahrheit landet der Mensch zuletzt bei sich selbst, und diese romantische Version hat ihre historische Wahrheit in der Geschichte der modernen Physik gefunden, was zwar überraschend klingen mag, aber an anderer Stelle genauer ausgeführt wird.[3]
Im Innersten der Welt
Um auf das versprochene Thema der Zumutbarkeit zu kommen: Nach Schiller ist die Wahrheit einem Menschen nicht zumutbar, während sie ihm nach Novalis erst den Mut zum Leben gibt. Diese Dichotomie ermöglicht einem Historiker einen überraschenden Blick in das 20. Jahrhundert. Es sei erlaubt, den mystischen Schleier statt über ein göttliches Geheimnis im Himmel über das irdische Mysterium zu legen, das sich im Innersten der Welt befinden muss und von dem sich Goethes Faust derart sehnsuchtsvoll angelockt fühlte, dass er nicht zögerte, sich dafür der Magie zu ergeben. Der faustische Mensch hat sich vor etwa einhundert Jahren in einen Atomphysiker verwandelt, dem es gelungen ist, mit einer mysteriösen Quantentheorie zu erschauen und wundersam wie von Zauberhand zu begreifen, was den Menschen bis dahin unzugänglich geblieben war und ihm verboten oder nicht zugedacht schien. Aber seit Physiker im Innersten der Dinge, konkret im Kern der Atome, angekommen sind, kann man mit Blick auf die Suchenden zu Sais sagen, dass sowohl der eiskalte Schiller als auch der schwärmerische Novalis etwas von einer sich dabei zu erkennen gebenden Wahrheit gesehen und sie verkündet haben.
Was den Aufklärer und seine Todesbeschwörung angeht, so hat die Ankunft im Inneren der Atome die Menschheit befähigt, massiv Kernenergie freizusetzen, und als die erste Uranbombe im Kriegsjahr 1945 gezündet wurde, sind dem Leiter des Projektes, dem amerikanischen Physiker J. Robert Oppenheimer, alte indische Verse durch den Kopf gegangen: »Ich bin der Tod, der alles raubt, der Zerstörer der Welten.«
Aber auch der Romantiker hat zutreffend vermutet, was passiert, wenn Menschen mutig den Schleier lüften und mit der sich ihnen zeigenden Wahrheit zu einem ungeheuren Wissen kommen. Denn als die theoretisch tätigen Physiker erstmals im Zentrum aller materiellen Dinge ankamen und nach den Atomen greifen wollten, fanden sie dort keine Sachen – keine Realitäten – mehr mit einem bestimmten Aussehen oder konkrete Materialien vor. Sie hielten dafür ideale Formen in ihren Händen und sahen Symbole auf dem Papier, mit denen sich die Wirklichkeit in der Weltmitte erfassen und beschreiben ließ, und alles, was sie einsetzen und vorzeigen konnten, stammte von ihnen selbst. Im Innersten der Mutter »Materia« begegnete der Mensch sich selbst und stieß nur auf sein eigenes Werk, wie Novalis es geahnt hat, und diese romantische Wahrheit erlaubt zusammen mit der aufgeklärten Version den bemerkenswerten Satz: Der Mensch und der Tod, sie gehören und treffen zusammen, und zwar in der Mitte der Welt. Jetzt kann man sich selbst und andere fragen, ob diese Wahrheit den Menschen zumutbar ist, und wie sie sich fühlen, wenn ihnen diese tiefe Verbindung sowohl in der Kunst als auch in der Wissenschaft begegnet.[4]
Es wird noch mehr über diesen Weg zu den Atomen gesagt werden, und dabei wird sich herausstellen, dass der Dichter Musil, der sich auch in der Physik auskannte, einen wichtigen Aspekt des Forschens angesprochen hat, indem er die tatkräftige Kunst der Wissenschaft wie jede andere nicht von Können, sondern von Müssen ableitete. Menschen verlangt es von Natur aus nach Wissen, und auch wenn die bei diesem Streben immer wieder auftauchenden neuen Wahrheiten weder den Forschungsgemeinschaften noch ihren Ethikräten gefallen – das systematische und methodische Weitersuchen nach überprüfbaren Erkenntnissen können Menschen nicht lassen und muss von ihnen fortgeführt werden. Die Wahrheit selbst drängt die Menschen dazu. Sie setzt ihnen nach und schiebt sie voran, bis sie sich umdrehen, um zu sehen, wer ihrem Lebens- und Leidensweg die Richtung gibt. Die Wahrheit ruht nicht eher, bis ihr jemand gegenübertreten, sie aushalten und sich zu ihr bekennen kann. Die Wahrheit will die Menschen, und die Menschen wollen die Wahrheit. Sie können ihr ins Gesicht sehen, aber sie müssen bereit sein, den Mut aufzubringen, den große Forschung benötigt und der sie auszeichnet.
Ernst Peter Fischer studierte Physik und Biologie in Köln und Pasadena (USA) und ist diplomierter Physiker, promovierter Biologe und habilitierter Wissenschaftshistoriker. Prof. Dr. Fischer lehrt Wissenschaftsgeschichte an der Universität Heidelberg und ist freiberuflich tätig als Wissenschaftsvermittler und Berater, unter anderem für die Stiftung »Forum für Verantwortung«. Er ist Autor zahlreicher Bücher – zuletzt sind u. a. erschienen: Die Charité – ein Krankenhaus in Berlin (2009), Die kosmische Hintertreppe (2010), Laser (2010), Das große Buch der Elektrizität (2011). Ihm wurden zahlreiche Auszeichnungen zuteil, unter anderem die Lorenz-Oken-Medaille (2002), der Eduard-Rhein-Kulturpreis (2003), die Treviranus-Medaille des Verbandes Deutscher Biologen (2003) und der Sartorius-Preis der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (2004).