Ist die Wahrheit dem Menschen zumutbar?
Als ich um 1990 die Gelegenheit bekam, eine Reihe von »Mannheimer Gesprächen« durchzuführen, in denen sich Philosophen, Natur- und Sozialwissenschaftler und Historiker mit Journalisten und anderen Vertretern des öffentlichen Lebens über gesellschaftsrelevante Fragen austauschen sollten, schickte ich die eingeladene Runde erst auf »Die Suche nach der verlorenen Sicherheit«, bevor die Teilnehmer die Gelegenheit bekamen, Ingeborg Bachmanns These zu erörtern und sich und das Publikum zu fragen, ob zutrifft, was die Schriftstellerin 1959 mutig und scheinbar selbstverständlich ausgedrückt hatte. Es sollte um Antworten auf die Frage gehen, »Ist die Wahrheit dem Menschen zumutbar?«, und zwar ohne Abstriche und zu jeder Zeit.[6]
Um das genannte Jahr 1990 schien die Wissenschaft so viele alltagsrelevante Fortschritte gemacht zu haben, dass sich die Medien sorgten, ob ihre vielen Ergebnisse mit den dazugehörigen Erkenntnissen den Menschen zugemutet werden können oder ob man vielleicht besser daran täte, Teile des Volks zu täuschen oder in einem beruhigenden Irrtum verharren zu lassen, wie im Jahre 1780 – also in Zeiten der Aufklärung – die Preisfrage der Berliner Akademie der Künste wissen wollte. Und tatsächlich: Wer kann heute mit den unentwegt einlaufenden Informationen zum bedrohlichen Klimawandel, zum beängstigenden Artensterben, zur zunehmenden Knappheit an Ressourcen und zum unerträglich wachsenden Schuldenberg vieler Nationen noch zurechtkommen und die erstaunliche Wissensvielfalt verarbeiten und einordnen? Wer kann mit all den permanent über immer mehr Kanäle auf das Publikum zuströmenden Auskünften zu steigenden Erdtemperaturen, wachsenden Atomwaffenarsenalen, bedrohlich zunehmenden Flüchtlingszahlen, steigender Korruption auf höchsten Ebenen und einer in immer neuen Wellen anrollenden Pandemie noch ruhig schlafen, vor allem, wenn sich – was das letzte Beispiel angeht – die Experten weltweit einig zeigen, dass Zoonosen eher die Regel als die Ausnahme sind, dass man also in Zukunft mit weiteren Infektionskrankheiten rechnen müsse, die von Tieren auf Menschen überspringen und Pandemien auslösen können? Und was andere Krankheitserreger angeht, so muss man nach jüngsten Meldungen[7] jährlich mit Millionen von Toten weltweit durch resistent gewordene Keime rechnen, gegen die das alte Zaubermittel der Antibiotika nicht mehr hilft. Sind diese bedrohlich und einschüchternd wirkenden Tatsachen als wissenschaftlich feststellbare Wahrheiten den einfachen Menschen wirklich zumutbar? Als in den Jahren der Weimarer Republik in den Straßen viele verkrüppelte Kriegsveteranen oder bettelnde Arbeitslose auftauchten, hat Bertolt Brecht den »Nachgeborenen« »Unempfindlichkeit« empfohlen, um damit umgehen zu können. Das klingt immer noch wie ein guter Rat in Zeiten, in denen man sich abschotten muss, in denen man abstumpft und eher unbeteiligt die Katastrophen der Welt unberührt in den Medien vorgeführt bekommt.
Bitte beachten Sie: Man kann bereits in den eigenen vier Wänden vor der methodisch und systematisch ermittelten Wahrheit kapitulieren. Soll man den Leuten wirklich sagen, wie viel Uran in ihrem Haus verborgen ist, wie viele zerfallende radioaktive Atome ihr Körper beherbergt, wie viele Salmonellen in Eiern zu finden sind, wie viele Viren die Salatblätter auf ihrem Teller garnieren, wie viele Pestizide sie mit ihren Lebensmitteln nach Hause schleppen und wie viele biochemisch manipulierte Zellen in einem Glas Hefeweizen schwimmen, wobei sich Beispiele dieser Art fast beliebig vermehren ließen?
Was sollen Menschen denken, wenn sie die eher unappetitliche Wahrheit über ihre Körperlichkeit erfahren, die darin besteht, dass sie aus sehr viel mehr fremden als eigenen Zellen bestehen – gemeint sind Bakterien, Pilze und weitere Mikroorganismen –, dass schmusende Paare bei einem Kuss rund 80 Millionen Bakterienzellen austauschen, dass ein Mensch mit etwa ebenso vielen – oder wenigen – Genen ausgestattet ist wie ein einfacher Fadenwurm – nämlich mit kaum mehr als 20000 –, dass sich im humanen Erbgut vor allem Hinweise auf einen niedrigen Ursprung des Menschen finden und die Mikroorganismen, die alle an- und abwesenden Menschen in und auf ihren Leibern in gigantischen Mengen besiedeln, Millionen von Genen zum gemeinsamen Leben hinzufügen, also quantitativ sehr viel mehr zum genetischen Erbe der Menschheit beisteuern als der in die wissenschaftliche Wahrheit vernarrte Homo sapiens selbst? Die philologische Wahrheit müsste an dieser Stelle eingestehen, dass Menschen keine Individuen mehr sind, weshalb die Forschungswelt sie inzwischen als Holobionten einstuft. Aber wem möchte man dieses Wort für sein Dasein zumuten?
Es lohnt sich noch einmal, Robert Musil zu zitieren, dessen Mann ohne Eigenschaften bereits für die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg konstatiert, dass eine Zeitung »von einer unermesslichen Undurchsichtigkeit erfüllt« ist und »von so vielen Dingen die Rede ist, dass es das Denkvermögen eines Leibniz überschritte«. Die unangenehme Wahrheit ist nun, dass dabei ein Problem auftaucht, das man allgemein als Verlust der Heimat bezeichnen kann. Wenn man unter Heimat die Verbundenheit mit den eigenen Daseinsverhältnissen und die Vertrautheit mit der dazugehörigen Umgebung versteht, dann sind es seit dem 19. Jahrhundert die Wissenschaften, die für die neue Heimat der meisten Menschen sorgen. Sie selbst haben ihre Lebensweisen geschaffen. Die westlichen Gesellschaften beherbergen die Wissenschaften aber wie einen fremden Gott, dem sie hilf- und ahnungslos gegenüberstehen. Sie sind von einem Verständnis der sie versorgenden Macht weiter entfernt, als es ein Bauer in einem mittelalterlichen Dorf von den Schriften eines Thomas von Aquin war.
Ernst Peter Fischer studierte Physik und Biologie in Köln und Pasadena (USA) und ist diplomierter Physiker, promovierter Biologe und habilitierter Wissenschaftshistoriker. Prof. Dr. Fischer lehrt Wissenschaftsgeschichte an der Universität Heidelberg und ist freiberuflich tätig als Wissenschaftsvermittler und Berater, unter anderem für die Stiftung »Forum für Verantwortung«. Er ist Autor zahlreicher Bücher – zuletzt sind u. a. erschienen: Die Charité – ein Krankenhaus in Berlin (2009), Die kosmische Hintertreppe (2010), Laser (2010), Das große Buch der Elektrizität (2011). Ihm wurden zahlreiche Auszeichnungen zuteil, unter anderem die Lorenz-Oken-Medaille (2002), der Eduard-Rhein-Kulturpreis (2003), die Treviranus-Medaille des Verbandes Deutscher Biologen (2003) und der Sartorius-Preis der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (2004).