Die Wissenschaft, die den Menschen ihre Heimat gibt, ist für die heutige Bevölkerung etwas Fremdes geworden, die auch ihre Sprache nicht mehr zu verstehen scheint, und diese wachsende Diskrepanz bereitet der Gegenwart immer größere Mühe. Die Lücke zwischen den Menschen und der sie versorgenden Wissenschaft kann man schließen, wenn sie zur Allgemeinbildung gerechnet und so von Intellektuellen behandelt wird, aber die Sozialwissenschaftler wehren sich dagegen. Sie und die Feuilletons applaudieren, wenn Jürgen Habermas sagt: »Die wissenschaftlich erforschte Natur fällt aus dem sozialen Bezugssystem von erlebenden, miteinander sprechenden und handelnden Personen heraus.« Damit machen die öffentlich als Vordenker Verehrten die Heimat der Menschen zu einer Fremde, und diese Wahrheit lässt sich die moderne Mediengesellschaft gefallen. Ihre Mitglieder scheinen Lust an ihrem Untergang zu haben, auf den sie in Ruhe warten.
Freuds Kränkungen[8]
Die eben genannten Informationen oder Wahrheiten über den Menschen können den Eindruck von Kränkungen erwecken, wobei dieses nach Krankenhaus riechende Wort nicht nur gewählt wurde, um aus dieser psychologischen Perspektive die Frage nach der Zumutbarkeit anzutippen, sondern auch, weil Sigmund Freud, der Vater der Psychoanalyse, von unerträglichen Kränkungen geschrieben hat, als er 1917 ziemlich ungehalten auf »Eine Schwierigkeit mit der Psychoanalyse« eingehen wollte. Freud irritierte damals, dass sich viele seiner Patienten entsetzt von seiner ihnen unzumutbar erscheinenden Idee abwandten, ihre psychischen Probleme mit unbewussten sexuellen Orientierungen zu erklären. Der Arzt Freud kam komischerweise nicht auf die Idee, seinen Patienten, den skeptisch bleibenden Ratsuchenden, zu helfen, er machte sich über deren Abwehrhaltung lustig und fügte ihrem Schaden noch seinen Spott hinzu, indem er ihre Zweifel als kleinbürgerliches Unbehagen an seiner grandiosen Seelendeutung auslegte. Freud stellte sich unbescheiden in eine Reihe mit Nikolaus Kopernikus und Charles Darwin und behauptete, ihm sei dasselbe gelungen wie den beiden Großen der Wissenschaft, nämlich die Menschen dadurch zu kränken, dass er ihnen eine unzumutbare Wahrheit verkündete. Mir kommt Freud bei alldem wie ein unzumutbarer Hochstapler vor, und »das ist die Wahrheit«, wie Thomas Bernard geschrieben hätte.
Kopernikus – so meinte Freud – habe die Menschen gekränkt, weil er sie aus der Mitte der Welt vertrieben und an den Rand gedrängt habe, Darwin habe die Menschen gekränkt, weil er sie vom Thron der Schöpfung gestoßen und zu einer Art unter vielen degradiert habe, und Freud selbst meinte, den Menschen deutlich gemacht zu haben, dass sie keinesfalls Herrn im eigenen Haus seien, da ihr bewusst planendes Denken verborgen bleibenden Quellen entspringe, die unbewusst für sie entscheiden. Das sind Wahrheiten, wie die Wissenschaft sie verkündet, und sie kränken Menschen und können ihnen nicht zugemutet werden, ohne seelische Schäden zu hinterlassen, wie der Seelenarzt Professor Freud meinte.
Die genannten drei Kränkungen werden selbst im 21. Jahrhundert so oft zitiert (und sogar vermehrt), dass es scheint, es habe diese Unzumutbarkeiten wirklich gegeben.[9] Tatsächlich könnte nichts weiter von der Wahrheit entfernt sein.[10] Die Freudianischen Kränkungen der Reihe nach: Als Kopernikus die Erde aus der Mitte nahm, da rückte er die Menschen auf ihrem Planeten näher zu ihrem Gott hin, der spätestens seit der Göttlichen Komödie außen – also hoch oben und weit weg von der schmutzigen Mitte – seinen Platz hatte. Als Darwin seine Idee der Evolution vorstellte, ließ er den Menschen, wo er war, nämlich an der Spitze der Entwicklung, nur dass Homo sapiens diese Position nun nicht mehr einem Gott, sondern sich selbst verdankte und auch so beanspruchte. Und als Freud sich seinen Patienten zuwandte, da wussten die Menschen schon längst, dass es etwas Göttliches gibt, das ihrem Dasein Bedeutung verleiht und ihre Handlungen beeinflusst. Nur hatte sich dessen Position von außen nach innen verschoben. Gott agierte nun aus den Menschen selbst heraus und kommandierte sie nicht von oben herab, und das ist die Wahrheit.
Kurzum – erst rückten die Menschen näher an Gott heran, dann setzten sie sich an seine Stelle und zuletzt holten sie ihn zu sich hinein. Sie können stolz auf diesen dreifachen Triumph der wissenschaftlichen Wahrheit sein, die alles andere als unzumutbar ist, wenn man sie richtig darstellt. Unzumutbar ist hingegen, dass die kopernikanische und die darwinische Revolution als Kränkungen verkauft werden, und eine säkulare Gesellschaft, die weder Kopernikus noch Darwin in ihr Weltbild integriert hat, muss sich fragen lassen, was man ihr überhaupt an wissenschaftlicher Wahrheit zumuten und Allgemeinbildung anbieten kann.
Um die Zumutbarkeit von Wahrheiten zu prüfen, soll noch einmal der Blick auf die Gene oder das Genom geworfen werden, deren Erkundung den Menschen eher mickrig dastehen lässt. Nicht mehr Gene als ein Wurm! Wie soll das Ebenbild Gottes mit dieser Wahrheit leben? Vielleicht sollte umgekehrt gefragt werden, wie man jemals ernsthaft der Ansicht sein konnte, dass Menschsein seine besondere Qualität ausgerechnet durch eine Quantität bekommt, durch die Zahl von Genen zum Beispiel, wobei daran zu erinnern ist, dass sich diese oftmals springenden und sich vielfach wandelnden Elemente einer Zelle gar nicht genau definieren lassen. Wenn überhaupt, dann zählt das Dynamische und flexibel Veränderliche am Genmaterial, und so sollten die Freunde der Wahrheit eher erkunden, wie viele Kombinationen aus menschlichen DNA-Sequenzen gebildet werden können und wie der Körper den permanenten genetischen Umbau in allen Lebensstufen steuern kann, ohne dabei den Überblick zu verlieren. Vermutlich können nicht nur Gene einen Menschen machen, die heranreifenden Menschen können auch ihre Gene selbst so machen, wie es ihnen passt, was unweigerlich die Frage aufwirft, woher die Tätigen bei ihrem Treiben wissen, was dabei herauskommen soll.
- [8] Ausführlich bei Fischer, Ernst Peter: Warum Spinat nur Popeye stark macht – Mythen und Legenden in der modernen Wissenschaft. München 2011.
- [9] Es scheint einen intellektuellen Wettbewerb zu geben, die Zahl der Kränkungen zu erhöhen. Man kann von einer technologischen Kränkung lesen, der zufolge Menschen von Maschinen beherrscht werden, die sie nicht verstehen. Man kann von einer digitalen Kränkung lesen, da das Internet den Menschen keine Freiheit, sondern das Gegenteil verschafft. Vielleicht sollte man noch die moderne kosmologische Kränkung hinzufügen, die den Menschen in einem zunehmend größer werdenden Universum immer unbedeutender zurücklässt und ihm bestenfalls die Rolle eines Zigeuners am Rande der Welt zugesteht.
- [10] Die Wahrheit über die Medien lautet, dass ihre Vertreter nicht aufklären, weil sie selbst nicht aufgeklärt sind. Sie benutzen nicht ihren eigenen Verstand, dafür aber ihr Handy. Heutige Menschen sind nicht mündig, dafür aber händig geworden.
Ernst Peter Fischer studierte Physik und Biologie in Köln und Pasadena (USA) und ist diplomierter Physiker, promovierter Biologe und habilitierter Wissenschaftshistoriker. Prof. Dr. Fischer lehrt Wissenschaftsgeschichte an der Universität Heidelberg und ist freiberuflich tätig als Wissenschaftsvermittler und Berater, unter anderem für die Stiftung »Forum für Verantwortung«. Er ist Autor zahlreicher Bücher – zuletzt sind u. a. erschienen: Die Charité – ein Krankenhaus in Berlin (2009), Die kosmische Hintertreppe (2010), Laser (2010), Das große Buch der Elektrizität (2011). Ihm wurden zahlreiche Auszeichnungen zuteil, unter anderem die Lorenz-Oken-Medaille (2002), der Eduard-Rhein-Kulturpreis (2003), die Treviranus-Medaille des Verbandes Deutscher Biologen (2003) und der Sartorius-Preis der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (2004).