Die Wahrheit wird euch frei machen
Wenn eben vom Machen der Gene die Rede war, dann sind damit ganz natürliche Entwicklungsprozesse und keine äußeren Eingriffe wie die gemeint, die seit den 1970er Jahren mit Hilfe sogenannter gentechnischer Methoden durchgeführt werden können und für die inzwischen eine höchst raffinierte Schere mit Namen CRISPR zur Verfügung steht. Mit diesen molekularen Werkzeugen lassen sich Gene im Wortsinne manipulieren – in die eigenen Hände nehmen –, wofür ausreichend hohe ethische Hürden zu überwinden sind, was auch für andere Eingriffe in das Leben eines Menschen gilt, zum Beispiel beim Impfen. Welche Wahrheit ist den Betroffenen dabei zumutbar?
Vielleicht erinnern sich einige noch an die große Impfaktion gegen die Kinderlähmung zu Beginn der 1960er Jahre. Als Impfstoff diente damals die abgeschwächte Form des Polio-Virus, die sich von der gefährlichen Variante, die ganze Leben zerstören konnte, um zwei lächerliche Mutationen unterschied, wie sich heute in aller Ruhe sagen lässt. Hätte man dieses Wissen den Menschen damals zumuten können? Wie viele hätten sich mit dieser Information der Impfung verweigert – trotz der eindrucksvollen Werbung, die das Erste Deutsche Fernsehen damals zeigte: »Kinderlähmung ist grausam, Schluckimpfung ist süß«. Warum verweigern sich heute so viele Querdenker dem Schutz vor einer Infektion?[11] Fürchten sie, dass die wissenschaftliche Wahrheit ihnen ihre Freiheit nimmt, weil mit der Wissenschaft das Gespenst des Determinismus auftritt, mit dem die Welt berechenbar zu werden scheint?[12]
In der Bibel steht etwas anderes: Die Wahrheit wird euch frei machen: So kann man es im Johannes Evangelium 8,32 lesen, aber nicht nur hier. Die Wahrheit wird euch frei machen. So findet man es auch in goldenen Lettern auf einer der Außenfassaden der Universität Freiburg, und so steht es auch – dann in Englisch – auf dem Emblem des California Institute of Technology in Pasadena – The Truth shall make you free«, wobei der Spruch eine Fackel umrundet. Wahrheit hat offenbar sowohl mit dem Glauben als auch mit dem Wissen zu tun, was allen gefallen muss, die der Meinung sind, dass Wahrheit sich nicht unbedingt mit Klarheit verträgt. Der große dänische Physiker Niels Bohr meinte sogar, die eigentliche Lektion beim Studium der Atome und ihrer Welt bestehe in der Einsicht, dass zwar das Gegenteil einer richtigen Aussage eine falsche ist, dass aber das Gegenteil einer wahren Aussage eine andere wahre Aussage ergibt. Wenn man zum Beispiel feststellt, dass Licht aus Wellen besteht, dann trifft das sicher zu, aber es gilt auch, dass Licht als Strom von Teilchen auftritt. Und während in der Biologie lange Zeit fest geglaubt wurde, dass erworbene Eigenschaften nicht vererbt werden und Änderungen der Gene nur zufällig zustande kommen, kennt man durch die Fortschritte einer Epigenetik inzwischen eine Vielzahl von Mechanismen, mit denen die Umwelt sich den Genen einschreibt.
Wer den Gedanken von Bohr positiv wenden will, kann sagen, dass sich die Wahrheit über das Licht und die Gene im Besonderen und die Welt und das Leben im Allgemeinen nur so ausdrücken lässt, dass sie ihr Geheimnis behält. Und tatsächlich – wenn jemand frohen Herzens als persönliche Glaubenswahrheit verkündet, dass sein Gott lebt, muss sich jeder darauf seinen eigenen Reim machen, und klar ist nur, dass da jemand sein Vertrauen einem Gott in der Höhe schenkt und dabei in himmlische Sphären schaut, in denen die äußeren menschlichen Augen gewöhnlich wenig sehen. Die Wahrheit macht die Menschen frei, und zwar deshalb, weil sie ihnen eine Wahl gibt, die sie allerdings auch treffen müssen – mit allen Konsequenzen. Wie bei dem Teufel Mephisto in Goethes »Faust« gilt für der Homo sapiens in Gottes Hand, »Das Erste steht uns frei, beim zweiten sind wir Knechte.
Das Geheimnis der Wahrheit
Mit anderen Worten: Die Wahrheit bleibt geheimnisvoll, und das heißt, man kann sich nur um sie bemühen, wie schon Lessing meinte, ohne sie haben zu können. Wer die Wahrheit finden will, muss sich an die Arbeit machen und um sie kämpfen und ringen, und diese Wendung gibt die Gelegenheit, den Blick von der anvisierten abstrakten Wahrheit weg zu lenken und auf die konkreten Menschen zu richten, die mit ihr beschäftigt sind und denen Ingeborg Bachmann mit ihrer Rede und ihren Schriften die inneren Augen öffnen möchte. Pointiert gefragt: Welche praktische Wahrheit über den Menschen zeigt sich unter diesem Blickwinkel?
Eine Antwort kann man unter der philosophischen Vorgabe versuchen, dass sich Menschen als die Lebewesen verstehen lassen, die erst lernen und wissen, wo ihre Grenzen liegen, um dann zu versuchen, sie zu überwinden, wobei sie hoffen können, dass ihnen dieser Schritt gelingt. Wenn man diese Auskunft vertiefen und im naturwissenschaftlichen Rahmen mit den Bedingungen der Evolution argumentieren möchte, kann man sagen, dass Menschen ihre Existenz einem Überlebenskampf verdanken, und diese Wahrheit zeigt, was Homo sapiens am besten kann: Kämpfen, kämpfen, immer wieder und immer nur kämpfen. Menschen sind Kämpfernaturen, die den historischen Überlebenskampf gewonnen haben, die sich allen möglichen sportlichen Wettkämpfen stellen, die sich immer wieder auf Wahlkämpfe und Redeschlachten freuen und selbst in TV-Talkrunden Konfrontation suchen und genießen, und so könnte man fortfahren, den streitbaren und kampferprobten Menschen zu charakterisieren, was eine merkwürdige Überlegung erlaubt. Zwar verkündet die Bibel, »Die Wahrheit wird euch frei machen«, aber um diese Wahrheit müssen Menschen kämpfen. Sie fällt ihnen nicht in den Schoss und erst recht nicht vom Himmel. Der fromme christliche Wunsch »Friede sei mit euch!« führt Menschen in die Irre, was auch Goethe meinte, als er dichtete, »Alles in der Welt lässt sich ertragen, / Nur nicht eine Reihe von schönen Tagen«. In Frieden leben, das hält kein Mensch aus. Im Paradies langweilen sich evolutionär gewordene Wesen zu Tode, und sie können nur die Flucht ergreifen, was Adam und Eva auch getan haben, vor allem, weil sie allen anderen damit geholfen haben, aus dem Paradies des Unwissens zu entkommen, das unerträglich ist. Die Wahrheit, die Menschen frei macht, finden sie nur außerhalb des Gartens Eden, und so sollte man den Bewohnern dieser Welt wünschen, »Nicht der paradiesische Friede, sondern der säkulare und faire Kampf um die Wahrheit sei mit euch und erhalte eure Gesundheit!« Kämpft um das Leben und bemüht euch um die Vermehrung eures Wissens, sonst vergeht ihr vor Langeweile. »Das ist die Wahrheit«, wie Thomas Bernard in seinen Texten immer mal wieder kurz und knapp verkündet hat. Menschen öden sich im Frieden zu Tode und haben alle Mühe, nicht ihre Freiheit, sondern ihre Freizeit totzuschlagen. Sie sterben lieber den Heldentod im Kampf und verzehren sich nach der Spannung der Auseinandersetzung, wenn es viele auch gerne beim Zuschauen belassen. Das Streiten hilft Menschen am besten, vor allem, wenn es nicht um politisch motivierte Kriege und sinnlose Materialschlachten mit unnötigen Toten geht, sondern wenn sich die Spannung im Ringen um das Wissen zeigt, mit dem Menschen schließlich die Macht gewinnen können, mit denen sie erst ihre Existenzbedingungen erleichtern und dann das bessere Leben führen können, das sie anstreben.
- [11] In den 1960er Jahren hat das stattgefunden, was man als gesellschaftspolitische Wende einstufen kann, und mit ihr ist es gelungen, die Naturwissenschaften aus der Allgemeinbildung zu eliminieren.
- [12] Sozialwissenschaftler sprechen gerne von der Entzauberung der Welt durch die Wissenschaft, ohne zur Kenntnis zu nehmen, dass es durch sie zu einer Verzauberung kommt. Mit der Annäherung an die Wahrheit wird das Geheimnis der Dinge tiefer.
Ernst Peter Fischer studierte Physik und Biologie in Köln und Pasadena (USA) und ist diplomierter Physiker, promovierter Biologe und habilitierter Wissenschaftshistoriker. Prof. Dr. Fischer lehrt Wissenschaftsgeschichte an der Universität Heidelberg und ist freiberuflich tätig als Wissenschaftsvermittler und Berater, unter anderem für die Stiftung »Forum für Verantwortung«. Er ist Autor zahlreicher Bücher – zuletzt sind u. a. erschienen: Die Charité – ein Krankenhaus in Berlin (2009), Die kosmische Hintertreppe (2010), Laser (2010), Das große Buch der Elektrizität (2011). Ihm wurden zahlreiche Auszeichnungen zuteil, unter anderem die Lorenz-Oken-Medaille (2002), der Eduard-Rhein-Kulturpreis (2003), die Treviranus-Medaille des Verbandes Deutscher Biologen (2003) und der Sartorius-Preis der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (2004).