Kultur entsteht nicht im friedvollen Müßiggang, der nur aller Laster Anfang ist. Kultur entspring einem heftigen Streiten, wie Kinokenner wissen, die sich an den 1949 entstandenen Film »Der dritte Mann« erinnern, der im zerbombten Wien spielt, dessen Drehbuch von Graham Green stammt und in dem Orson Welles einen Schurken spielt. Der von ihm Dargestellte verdient sein Geld mit gestohlenem Penicillin, das er aus Geldgier und ohne Rücksicht auf Menschenopfer bis zur Unwirksamkeit streckt, wobei er das verbrecherische Vorgehen einem Freund gegenüber mit einem atemberaubenden historischen Vergleich rechtfertigt: »Im Italien unter den Borgias herrschten 30 Jahre lang Terror und Mord, aber die Zeit brachte Michelangelo und die Renaissance hervor. In der Schweiz herrschte 500 Jahre Friede. Und was haben sie hervorgebracht? Die Kuckucksuhr!« Auch wenn das so nicht stimmt, weil die Kuckucksuhr aus dem Schwarzwald stammt, geht die angedeutete Kombination von Friedfertigkeit und Kulturbanalität oder von Kampfbereitschaft und Kreativität über das Bonmot im Kino hinaus, und es sollte lohnen, die These aus dem »Dritten Mann« durch historische Analysen bestätigen oder verwerfen zu können, was hier nur vorgeschlagen werden kann.
Als sich der mit Nobelehren gewürdigte Physiker Dennis Gabor im Jahre 1968 Gedanken über die »Menschheit morgen« machte,[13] sah er drei große Gefahren für die Kultur, nämlich »die Vernichtung durch einen Atomkrieg, die Lähmung durch Überbevölkerung und das Zeitalter der Muße«. Was die ersten beiden Katastrophenszenarien angeht, so meinte Gabor, die Menschen beruhigen zu können. Auf solche Situationen seien sie durch die Evolution gut vorbereitet, was aber nicht der Fall für das Zeitalter der Muße ist. »Muße ist für alle etwas völlig Neues in der Menschheitsgeschichte«, wie Gabor schreibt. Es braucht eine Welt voller Gegner und Gegenüber mit Streit und Kampf und Konkurrenz und Widerspruch und Auseinandersetzungen, und alles Streben darf nie an das Ziel kommen, mit dem ein Ende erreicht wird. Deshalb ist der Weg das Ziel, und die Menschen suchen sich immer ein neues, wenn der alte Weg begangen ist. Sie suchen auch immer neue Fragen, wenn sie die alten beantwortet haben. Nichts ist fertig, alles ist Bewegung, auch der Mensch selbst, der erst im Kampf und mit Mühen zu sich selbst findet und dann den Augenblick erleben kann, in dem er oder sie der Wahrheit gegenübersteht, die dabei zeigt, was bei dieser Bildung aus den Menschen und der Welt werden kann.
Das Erfreuliche ist, dass sich in meinen Augen ein Moment in der Geschichte der Wissenschaften ausmachen lässt, in dem es einem Menschen gelungen ist, eine solche Wahrheit zu schauen. Der Augenblick kommt im Verlauf einer Reise, die ihn in das Innerste der Welt geführt hat und bei deren Antritt er eine Rückkehr ausgeschlossen hat. Die Rede ist von dem jungen Physiker Werner Heisenberg, der in den 1920er Jahren die Atome verstehen wollte, sich dabei auf ein Abenteuer des Denkens einließ und bei dessen Abschluss konkret für die Wissenschaft erlebte, was der romantische Dichter Novalis in seiner Poesie erahnt und beschrieben hat.[14] Als Heisenberg den Schleier ergreifen und entfernen konnte, der sich über die Wahrheit der Atome gebreitet hatte, fand er darunter nichts Greifbares oder Dingliches. Er begegnete sich selbst und seinen Spuren. Die Bahn eines Elektrons in einem Atom, so hatte der junge Mann bereits zuvor instinktiv verspürt, entsteht erst dadurch, dass ein Mensch sie beschreibt, und in einer Nacht auf Helgoland fand er die Sprache, mit der dies gelingen kann. Im Innersten der Welt findet man keine realen Dinge mehr, aus denen sich eine Welt aufbauen kann. Um die Wirklichkeit zu begreifen, muss man ihr eine ideale Form geben, mit deren Symbolen man operieren und rechnen kann, um mit einer zunehmenden Verkörperung der Ideen zuletzt etwas Reales zu errichten. Im Innersten der Welt trifft auch Faust nur auf den Menschen, der er ist, und dieser Mensch weiß, was er am Anfang braucht – eine geistige Tat, wie sie Heisenberg vollbracht hat.
Der Wahrheit gegenübertreten
Der große Physiker Werner Heisenberg musste sich als Jugendlicher um 1920 entscheiden, ob er Musik oder Physik studieren sollte, und er hat die Naturwissenschaft gewählt, weil es ihm schien, dass man auf diesem Gebiet im 20. Jahrhundert erleben könne, was in der Musik in den Lebenszeiten von Mozart und Schubert möglich war, dass man in der Wissenschaft der Wahrheit gegenübertreten könne wie einst die Künstler mit ihrer Kreativität.[15] Heisenberg konnte solch eine kühne Sicht 1969 in seiner Autobiographie »Der Teil und das Ganze« beschreiben, weil ihm dieser Schritt 1925 auf Helgoland gelungen war. Er war damals als 24jähriger der Wahrheit persönlich gegenübergetreten, als sich vor seinen Augen in tiefer Nacht ein »Grund von merkwürdiger innerer Schönheit« auftat, aus deren Anblick die moderne Physik der Atome hervorgegangen ist. Sie gehört als Quantenmechanik nicht nur zu den wichtigsten philosophischen Ereignissen des 20. Jahrhunderts, sondern erlaubt es Ingenieuren und Unternehmen darüber hinaus, Produkte anzufertigen, die mehr als 30% der Weltwirtschaftsleistung ausmachen. Zu den traurigen Wahrheiten der Moderne zählt die Feststellung, dass sich weder die Philosophen noch die Historiker und erst recht nicht die Psychologen auf diese Entwicklung einlassen, was jetzt nicht weiter analysiert und nur bedauert wird. Hier soll berichtet werden, was das Erblicken der Wahrheit mit dem damals 24jährigen Heisenberg gemacht hat, der allein in seinem Zimmer auf Helgoland saß, als sich die Wahrheit in ihm ihren Weg brach und er sie vor sich auf dem Papier sehen konnte.
Das heißt, sehen konnte Heisenberg nur die mathematischen Symbole, die er dort notiert hatte, aber sie waren mehr oder weniger von selbst da hingekommen, nachdem die Wahrheit über die Atome ihn schon lange beschäftigt und dann auch getrieben hatte. Jahrelang denkt er jeden Tag mehr als zehn Stunden ohne Erfolg über die Atome nach, bis er die Sichtweise ändert und die Vorstellung aufgibt, dass sich Atome modellieren lassen und ein Aussehen haben. Atome sind Ideen, es sind Archetypen, wobei man sagen könnte, Atome sind Ursachen, wobei man lieber Ur-Sachen sagen sollte. Was man braucht, ist eine mathematische Sprache, um die Wechselwirkungen der Energie zu beschreiben, mit denen aus der Bewegung der Elektronen die Emission von Licht wird, und diese Sprache drängt sich Heisenberg in der Nacht auf Helgoland auf, wobei er Vertrauen in die Idee hat, dass die Energie eine Konstante ist. Was immer in seinem Kopf passiert, seine Hände bringen mathematische Symbole auf das Papier, und bei ihrem Anblick gerät Heisenberg so in Erregung, dass an Schlaf nicht mehr zu denken ist. Er spürt, er ist der Wahrheit begegnet und verlässt noch im Dunkel der Nacht sein Zimmer, um einen Felsenturm zu erklimmen, den es heute nicht mehr gibt, weil die Briten ihn im Zweiten Weltkrieg gesprengt haben. Man weiß allerdings, dass das Erklettern dieses Felsens selbst tagsüber höchst riskant war, aber das stört den erregten jungen Mann in der Morgendämmerung nicht, hat er doch Goethes »West-östlichen Diwan« auswendig gelernt und die »selige Sehnsucht« im Kopf, die vom Flammentod spricht und dem Kletterer zuflüstert, »Und so lang du das nicht hast, Dieses: Stirb und werde!/ Bist du nur ein trüber Gast/ Auf der dunklen Erde.«
Wer die Wahrheit gesehen hat, ist dazu bereit. Stirb und werde! Heisenberg ist kein trüber Gast mehr auf dunkler Erde. In seiner Wissenschaft wird es Tag, und der junge Mann auf Helgoland strahlt vor Glück. Die alte Physik ist tot. Er hat die neue ans Licht geholt! Heisenberg erwartet auf der Spitze des Felsenturms den Sonnenaufgang und kehrt zurück in die Welt, in der sich die vielen neuen Möglichkeiten bieten, die das Schauen der Wahrheit ergeben hat und die sie nutzen wird.
- [13] Gabor, Dennis: Menschheit morgen. Frankfurt am Main 1969.
- [14] Fischer, Ernst Peter: Werner Heisenberg – Wanderer zwischen zwei Welten. Heidelberg 2015.
- [15] In Kriegszeiten (1942) hat Heisenberg sich Gedanken über eine »Ordnung der Wirklichkeit« gemacht (München 1989 und Heidelberg 2019) und darin gemeint, »vielleicht wird bei der zukünftigen Gestaltung der Welt die Wissenschaft eine noch wichtigere Rolle spielen als bisher, … weil sie die Stelle ist, an der die Menschen unserer Zeit der Wahrheit gegenübertreten.«
Ernst Peter Fischer studierte Physik und Biologie in Köln und Pasadena (USA) und ist diplomierter Physiker, promovierter Biologe und habilitierter Wissenschaftshistoriker. Prof. Dr. Fischer lehrt Wissenschaftsgeschichte an der Universität Heidelberg und ist freiberuflich tätig als Wissenschaftsvermittler und Berater, unter anderem für die Stiftung »Forum für Verantwortung«. Er ist Autor zahlreicher Bücher – zuletzt sind u. a. erschienen: Die Charité – ein Krankenhaus in Berlin (2009), Die kosmische Hintertreppe (2010), Laser (2010), Das große Buch der Elektrizität (2011). Ihm wurden zahlreiche Auszeichnungen zuteil, unter anderem die Lorenz-Oken-Medaille (2002), der Eduard-Rhein-Kulturpreis (2003), die Treviranus-Medaille des Verbandes Deutscher Biologen (2003) und der Sartorius-Preis der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (2004).